Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 67Jeder war mal in einer und alle wissen natürlich, was da schiefläuft und "in die Bildung" soundso. Die Schule, lebenslanger Erinnerungsort, Zeit des Erwachsenwerdens und leider auch der Prüfung. Auch wenn so mancher später im Leben feststellt, dass die Benotungen rasch verblassen und das Leben noch einmal ganz anders verläuft, als die 1, 2 oder 3 vorherzusagen schien: durch den großen Schluss-Contest mussten wir alle. Wie eine Abiturprüfung heutzutage in Sachsen abläuft, hier mal aus Lehrerperspektive.

Das war knapp. Es kam dem Physiklehrer komisch vor, dass der Zweitkorrektor gleich sieben Notenpunkte weniger auf die Abiturprüfung seines Schülers gegeben hatte. Drei ok, aber mehr als das? Ein Anruf bei der damaligen Sächsischen Bildungsagentur ergab: Der Zweitkorrektor hatte im vergangenen Jahr ein Blatt übersehen, das ihm offenbar aus der Tasche gefallen war. Die Schülernote wurde geändert, eine Drittkorrektur, die bei einem Unterschied von mehr als drei Notenpunkten zwischen Erst- und Zweitkorrektor oder bei 0 Punkten rechtlich notwendig geworden wäre, war nicht nötig.

Wo der Lehrer die Abiturprüfungen aufbewahrt hat, ist nicht bekannt. Dafür gibt es allerdings strenge Anweisungen: Nicht im Auto und weit weg von Kindern, lautet die Devise. Dass so ein Missgeschick im durchbürokratisierten sächsischen Abitur dennoch passieren kann, ist irgendwie beruhigend, gleichzeitig aber auch beängstigend, denn ohne das Engagement des Lehrers hätte der Abiturient wohl die schlechte Note hingenommen ohne zu wissen, was tatsächlich passiert ist. Und das, wo die rechtlichen Rahmenbedingungen ohnehin nicht sonderlich schülerfreundlich sind.

Immerhin: Seit 2018 dürfen Schüler auf Nachfrage erfahren, warum sie diese bestimmte Note in der mündlichen Prüfung erhalten haben. Zuvor war das nicht gestattet. Zwei Prüfungen müssen die Schüler mündlich ablegen, je nach Leistungskurs-Wahl können das Musik, Religion, Kunst, aber auch Geschichte und/oder Geografie sein. Schriftlich werden sächsische Schüler in ihren beiden Leistungskursen und einem dritten Fach geprüft, das sich wieder aus diversen Möglichkeiten und Einschränkungen ergibt. Es ist in Sachsen nicht möglich, das Abitur zu erhalten ohne in Mathe und Deutsch eine Prüfung abzulegen. Und das ist schon mal ein Unterschied zu anderen Bundesländern.

Bürokratie und Toilettengänge

Erst vor 12 Monaten berichtete „Der Spiegel“ über die Nichtvergleichbarkeit von Abiturnoten in Deutschland. Im Grundsatz gilt: Je weiter nördlich, desto einfacher wird es.

Nichts ist bürokratischer als das sächsische Abitur, sagt man sich in mancher Schule des Freistaats und tatsächlich gibt es nicht nur für Schüler, sondern auch für Lehrer einiges zu beachten. Bei schriftlichen Prüfungen ist es den diensthabenden Lehrern beispielsweise untersagt, andere Tätigkeiten auszuüben, was so gesehen erstmal sinnvoll ist, um genügend Augen für Betrugsversuche offen zu halten, bei drei oder vier Unterrichtsstunden Aufsicht allerdings auch anstrengend werden kann.

Wie schön, wenn dann etwas Abwechslung der Art hereinkommt, dass Schüler zur Toilette gehen. Jeder Toilettengang muss nämlich mit Dauer und Name vermerkt werden. Eine der wenigen Situationen, in denen die Schüler mit ihren Klarnamen bezeichnet werden.

Denn jeder Schüler hat für jede schriftliche Prüfung eine andere Chiffre, beispielsweise A028. Das soll verhindern, dass die Fachlehrer, die die Erstkorrektur übernehmen, mit großen Gefühlen an die Arbeit herangehen und Schüler bevor- oder benachteiligen. Pädagogen, die zwei Jahre lang zahlreiche Leistungsmessungen ihrer Schüler korrigiert haben, kennen allerdings ohnehin die Federstriche und Lieblingsstifte ihrer Eleven. Der Zweitkorrektor jedoch nicht. Zudem ist klar geregelt, in welchen Farben die Korrektoren ihre Vermerke auf der Prüfung machen. Erstkorrektor rot, Zweitkorrektor grün, Drittkorrektor braun.

Safeöffnung und Notfall-Hotline

Außerdem hat jede Prüfung in Sachsen ihre eigene Chiffre und vor jeder Prüfung zieht jeder Schüler seinen Sitzplatz. Welche Hilfsmittel erlaubt sind, ist festgelegt, Tafelwerke müssen einen Tag vorher abgegeben werden. Die Fachlehrer überprüfen, ob sich dort Randbemerkungen finden. Prüfungsaufsicht führen in der Regel stets zwei Kollegen, auch wenn es nur einen Prüfling gibt. Somit kann einer immer Hilfe holen oder den Prüfling weiter beaufsichtigen während der andere beispielsweise zur Toilette geht oder einen Betrugsversuch an die Schulleitung meldet. Denn ob die Prüfung für den Unhold beendet ist, muss diese erst entscheiden.

Schon um 7 Uhr hat der Vorsitzende des Prüfungsausschusses im Beisein des Fachlehrers die zuvor im Schul-Safe eingelagerten Prüfungsaufgaben geöffnet und überprüft. Die Öffnung wird natürlich mit Uhrzeit protokolliert. Anschließend sind die Fachlehrer angehalten, sich von den Schülern fernzuhalten, um nicht in den Verdacht etwas Anrüchigem zu kommen. Manchmal hätten sie für eine Kontaktaufnahme auch gar keine Zeit. Beim diesjährigen schriftlichen Englischabitur fehlte ein Satz, der sonst standardmäßig zur Prüfung dazugehörte.

Bisher durften Schüler im zweiten Teil der Prüfung aus den drei Textproduktionen eine auswählen. Diesmal gab es diesen Satz nicht. Sofort hingen die sächsischen Oberstufenberater am Telefon und versuchten an der Unterstützer-Hotline des Landesamts für Schule und Bildung Hilfe zu erhalten. Noch bevor die Prüfung 8 Uhr startete, war die Sache geklärt. Fehler vom Amt: Der Satz wurde schlicht vergessen. Wie das nach 10 Jahren immer gleichen Textbausteinen geht, blieb bisher ungeklärt.

In einer internen Fortbildungsveranstaltung hat das Landesamt für Schule und Bildung, kurz LaSuB, darauf hingewiesen, dass es auch unschicklich ist, wenn Chemie- und Physiklehrer mit den Experimentier-Geräten für alle sichtbar über den Schulhof laufen. Schlaue Schüler sehen schnell, was dann wohl das Thema der Prüfung sein könnte.

Mündlich prüfen – aber schön unhöflich

Im Anschluss an die schriftlichen Prüfungen finden die mündlichen statt. Das Land Sachsen gibt für diese einen Prüfungszeitraum von drei Wochen vor, was bei aller rechtlichen Regulierung aus Fairnessgründen eine Ungerechtigkeit bedeutet. Denn theoretisch ist es möglich, dass Schüler nach der letzten Abiturprüfung – Mathe am 3. Mai – schon in der kommenden Woche zur mündlichen Prüfung gebeten werden. Andere Schulen prüfen allerdings erst an den letzten Tagen des Zeitraumes bis hin zum 27. Mai.

Wer also zeitig im Prüfungszeitraum ran muss, hat im Gegensatz zu den späteren deutlich weniger Abstand zu den schriftlichen Prüfungen und damit weniger Vorbereitungszeit. Allerdings: Danach natürlich noch mehr Zeit, nichts zu tun, denn mit der letzten mündlichen Prüfung ist die Prüfungszeit für den Schüler vorbei.

Warum er welche Note bekommen hat, darf er mittlerweile, wie erwähnt, nachdem er die Note vom Prüfungsvorsitzenden erfahren hat, nachfragen. Ganz wichtig ist es, auf die Zwischentöne zu achten.

Bei einem Prüfungsergebnis von 5 Punkten oder besser gratuliert der Prüfungsvorsitzende zur bestandenen Prüfung, unter 5 Punkten zur absolvierten. Bis dahin sollte der Schüler eigentlich keine eindeutigen Rückmeldungen vom prüfenden Fachlehrer zu seiner Note bekommen. Während einer Prüfung verbale Einschätzungen wie „gut“ oder „prima“ abzugeben, ist unschicklich, denn letztlich könnte der Schüler den Eindruck gewinnen, es liefe gut und bei einem diametral entgegenstehenden Ergebnis aus allen Wolken fallen.

Schulleiter bestehen auch darauf, dass nicht gelächelt wird. Der dritte im Bunde der Prüfungskommission ist neben dem Vorsitzenden und dem Prüfer der Protokollant, der den Verlauf der Prüfung notiert. Auch diese sollen allerdings keine Wertungen wie „Der Schüler beantwortet Aufgabe 2 gut“ oder „Die Einschätzung der Quelle war herausragend“ enthalten, denn auch das Protokoll würde bei einer Klage des Schülers wegen einer schlechten Note, zurate gezogen.

Die Folge ist, dass die Protokolle letztlich inhaltsleer sind: „Der Schüler antwortet auf Frage 1. Anschließend antwortet er auf Frage 2.“ Es gilt, bloß keine Angriffsfläche zu bieten. Oder anders gesagt: Bitte nicht freundlich.

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