Der Lernpsychologe Prof. Dr. Henrik Saalbach vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Leipzig warnt kurz vor Beginn des neuen Schuljahres in mehreren Bundesländern eindringlich vor einer Wiederholung der Fehler bei der Beschulung von Kindern in Zeiten des ersten Lockdowns im Frühjahr. Diese – wie er es nennt – „Verantwortungsdiffusion“, bei der viele Schulen nur auf Vorgaben der Politik gewartet und zu viel den Eltern überlassen hätten, dürfe nicht noch einmal auftreten.

„Jede Schule muss jetzt Verantwortung übernehmen und Hygiene- sowie pädagogische Konzepte für verschiedene Infektionsszenarien entwickeln – vom eingeschränkten Normalbetrieb bis hin zu einem erneuten Lockdown“, betonte Saalbach.

Es könne nicht sein, dass beim Auftreten eines Infektionsfalls gleich die gesamte Schule geschlossen wird und der Unterricht ausfällt. Die Kinder und Jugendlichen hätten ein Recht auf Bildung, dem jede Schule entsprechend ihrer Gegebenheiten gerecht werden müsse. Er befürchte, dass die Zeit seit dem ersten Lockdown bis zum Schuljahresbeginn nicht genügend genutzt wurde, um „passgenaue Konzepte“ für die verschiedenen Szenarien zu entwickeln.

„Ich habe den Eindruck, dass sich viele an die Hoffnung geklammert haben, dass es nicht wieder so schlimm wird. Aber wir müssen damit rechnen, dass es wieder schlimm wird. Alles andere wäre unverantwortlich“, betont Saalbach. Der Unterrichtsausfall müsse auch dann so gering wie möglich gehalten werden, wenn sich die Zahl der Corona-Infizierten weiter stark erhöht. Wichtig sei es, die Eltern mit ins Boot zu holen. Es dürfe aber nicht wieder nahezu alles an ihnen hängenbleiben.

Eine Gefahr sieht der Experte unter anderem in dem Kurssystem der höheren Klassen, bei dem Jugendliche verschiedener Klassen zusammenkommen und dadurch die Infektionsgefahr steige. Auch die Grundschüler seien vom Lockdown besonders betroffen gewesen, weil sie über Wochen keinen Kontakt zu Lehrern und Mitschülern gehabt hätten. Es ist damit zu rechnen, dass sich dadurch die sozialen Unterschiede in den Leistungsentwicklungen weiter vertieft haben.

„Die Politik ist ebenso in der Verantwortung und muss beispielsweise die technische Ausstattung der Schulen verbessern. Das kann aber keine Ausrede sein“, erklärte Saalbach. Die meisten Haushalte verfügten über elektronische Geräte zur Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern. Für die Schüler, die keinen Rechner zu Hause haben, könnten beispielsweise in der Schulaula mit größerem Abstand Geräte aufgebaut werden. Wichtig sei es, dass Lehrer den Kontakt zu ihren Schülern halten. Das sei auch übers Telefon oder über soziale Medien möglich.

„Die Pädagogen sind die Experten für Lehren und Lernen. Das kann ihnen kein Bildungspolitiker abnehmen“, betont der Lernpsychologe vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Leipzig. Selbstverständlich gab es viele engagierte Pädagog/-innen, die während des Lockdowns versucht haben, ihre Schüler so oft wie möglich zu erreichen, um diese nicht nur mit Aufgaben und lernförderlichen Rückmeldungen, sondern auch mit Zuspruch und Ermutigung zu versorgen. „Diesen Pädagog/-innen gilt mein größter Respekt. Aber leider fand das nicht in der Fläche statt.“

Gemeinsam mit Kollegen wertet der Bildungspsychologe derzeit eine eigene Studie zu den Auswirkungen des „Homeschoolings“ auf Grundschüler aus. Die bisherigen Ergebnisse seien teilweise alarmierend. So hat der Großteil der befragten Eltern angegeben, dass vonseiten der Schule gar nicht erwartet wurde, die zu Hause bearbeiteten Aufgaben einzureichen.

Damit erhielten die Kinder keine Rückmeldung und die Lehrer konnten nicht wissen, wo ihre Schüler stehen, um nachfolgende Aufgaben an den Lernstand der Kinder anzupassen. Eine Studie des IFO-Instituts hat zudem herausgefunden, dass die Kinder in Zeiten der coronabedingten Schulschließungen weniger als die Hälfte der sonst üblichen Zeit mit Lernen verbrachten.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 79: Von Gier, Maßlosigkeit, Liebe und Homeschooling in Corona-Zeiten

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