An die erschütternde Geschichte des Massakers von Abtnaundorf vom 18. April 1945 erinnert eine neue Broschüre von Jelena und Karl-Heinz Rother. Die Autoren stellen das Verbrechen in den Gesamtzusammenhang der Zwangsarbeit in der NS-Zeit am Beispiel der Leipziger Erla-Flugzeugwerke. Am 5. Mai 2013 wird in Leipzig der Opfer der Zwangsarbeit gedacht.

Leipzig hat eine Straße des 18. Oktober. Das Datum spielt im historischen Bewusstsein der Stadt eine wichtige Rolle. Auf diesen Tag vor fast 200 Jahren wird die Niederlage des napoleonischen Heeres in der Völkerschlacht bei Leipzig datiert. Über mehrere Generationen und verschiedene Staatsordnungen hinweg war dieser Tag zudem ein wichtiges Datum der amtlichen deutschen Erinnerungskultur.

Leipzig hat keine Straße des 18. April. Dabei ist der 18. April 1945 eines der markanten Daten der jüngeren Stadtgeschichte. An diesem Tag wurden weite Teile der Messestadt durch Soldaten der 2. und 69. US-Infanteriedivision von der NS-Herrschaft befreit. In dem damaligen Haus Frankfurter Straße 39 fiel der junge US-Gefreite Raymond J. Bowman. Das anonymisierte Foto des toten GI, aufgenommen von dem berühmten Fotografen Robert Capa, ging als “Der letzte Tote des Krieges” um die Welt.

Etwa zur selben Zeit verbrannten im Nordosten der Stadt 80 Menschen bei lebendigem Leibe. Die SS-Wachmannschaften des KZ-Außenlager Abtnaundorf wollten so Zeugen und Spuren des verbrecherischen Sklavenarbeitssystems der Nazis auslöschen.

An der Theklaer Straße erinnert seit 1958 ein Gedenkstein an das Massaker von Abtnaundorf. “An dieser Stelle wurden am 18. April 1945 achtzig Widerstandskämpfer von SS-Mördern lebendig verbrannt”, heißt es an dem Obelisk in der staatssozialistischen Deutung jener Jahre.

“Schmerzlich nehmen wir zur Kenntnis, dass am Obelisk, der an das Massaker erinnert, bis heute keine Tafel mit Erläuterungen zum Ort des Gedenkens angebracht worden ist”, kritisierte Professor Kurt Schneider im Frühjahr 2013. Diese Worte sind einer gerade erschienen Broschüre voran gestellt. In “Die Erla-Werke GmbH und das Massaker von Abtnaundorf” zeichnen die Leipziger Jelena Rother und Karl-Heinz Rother detailliert die Systematik der deutschen Rüstungswirtschaft am Beispiel der Erla-Flugzeugwerke nach. Und sie nehmen Anteil am Leiden der vielen und vielen namenlosen menschlichen Opfer, die die Kriegswirtschaft mit Vorsatz produzierte.Abtnaundorfer Massaker dient als Beweis in den Nürnberger Prozessen

Die Spuren des Massakers von Abtnaundorf wurden von den einrückenden US-Streitkräften akribisch dokumentiert. “Kameramänner des US-Signal Corps haben in Abtnaundorf mehrere Filmrollen gedreht”, schreiben Jelena und Karl-Heinz Rother. “Auszüge wurden im Dokumentarfilm ?Nazi Concentration Camps’, der im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als Beweismittel diente, an erster Stelle gezeigt”, so die beiden Autoren weiter.

Auch diese Aufnahmen, verbunden mit dem 18. April 1945 in Leipzig, gingen um die ganze Welt, wie die Eheleute Rother betonen. “In der internationalen Öffentlichkeit zählt das Massaker von Abtnaundorf deshalb zu den schrecklichen Gräueltaten der Nazis”, beschreiben sie die Wirkung der Filmszenen und Fotodokumente.

Sklavenarbeit in historisch einmaligem Ausmaß

Die Systematik der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus anzuerkennen, tat sich die deutsche Öffentlichkeit lange schwer. Für die Fachwissenschaft ist unstreitig: Etwa 13,5 Millionen Menschen aus etwa 100 Ländern mussten während der NS-Diktatur Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft leisten. Um die Dimension dieses Verbrechens zu verdeutlichen, bemühen manche Historiker den folgenden Vergleich: Aus Westafrika wurden etwa zehn Millionen Menschen nach Amerika als Arbeitssklaven verschleppt: über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten.

Offenkundig ist: Das deutsche Wirtschaftssystem der NS-Zeit blieb nur durch diese Arbeitssklaven funktionsfähig. Ohne diese Arbeitskräfte hätten Millionen deutsche Männer weder zur Wehrmacht einberufen werden, noch dabei mit Waffen und Gerät versorgt werden können. Der “totale Krieg” der Nazis wäre ohne diese Arbeitssklaven nicht zu führen gewesen.

Diese Kriegswirtschaft war staatlich gelenkt. “Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bleibt auch fast 70 Jahre nach Kriegsende unendlich wichtig”, sagte denn auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am 10. April 2013 in Berlin bei der Vorstellung einer unabhängigen Historikerkommission. Diese soll die Geschichte der Vorgängerinstitutionen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in der Zeit der NS-Diktatur bis in die Nachkriegszeit beider deutscher Staaten erforschen. “Wir wollen wissen, welche Rolle das Vorgängerministerium in Kriegswirtschaft, Besatzung und auch bei Genoziden gespielt hat”, so die Ministerin weiter.Diese Entwicklung zeichnen Jelena und Karl-Heinz Rother in ihrer Broschüre am Beispiel der Leipziger Erla-Werke nach. Bereits 1934 begann der Ausbau Leipzigs zu einem der Zentren der deutschen Rüstungswirtschaft. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf der Produktion von Flugzeugen.

Eine Vielzahl von Unternehmen war in das staatliche Rüstungsprogramm eingebunden. So die Allgemeine Transportanlagen-Gesellschaft mbH ATG in Leipzig-Schönau, ein Unternehmen des Flick-Konzerns. Weitere Betriebe anderer Unternehmen befanden sich beispielsweise in Markkleeberg und Schkeuditz.

Im Jahr 1935 nahmen die Erla-Werke in Leipzig-Heiterblick die Flugzeugproduktion auf. Anfangs in Hallen, die von der benachbarten Hauptwerkstatt der Leipziger Verkehrsbetriebe angemietet wurden, alsbald in eigenen, modernen Produktionshallen. Das Unternehmen wurde 1936 verstaatlicht.

Das Hauptprodukt der Erla-Werke war das Jagdflugzeug Messerschmidt Me 109, wie die beiden Autoren berichten. Im Jahr 1944 wurde eine Jahresproduktion von 4.468 Maschinen erreicht.

Jelena und Karl-Heinz Rother belegen zudem am Beispiel der Erla-Werke exemplarisch, wie der Arbeitskräftebedarf der deutschen Rüstungs- und Kriegswirtschaft gedeckt wurde. Bis zum Erreichen von Vollbeschäftigung im Deutschen Reich im Jahre 1938 rekrutierten sich die Facharbeiter und Hilfskräfte aus der Region: bei Erla hauptsächlich aus den von der Weltwirtschaftskrise schwer gebeutelten sächsischen Gebirgsregionen.

Schon kurze Zeit später kamen angeworbene Arbeitskräfte aus dem verbündeten Italien hinzu, etwa im heutigen Stammwerk der Volkswagen AG in Wolfsburg. Den “Ersteinsatz von ausländischen Zivilarbeitern in Leipzig” datieren Jelena und Karl-Heinz Rother auf den März 1941. Im späteren Kriegsverlauf wurden aus nahezu allen besetzten Gebieten Europas Arbeitskräfte zwangsweise in die Erla-Werke verbracht: Zivilisten wie Kriegsgefangene. Sie mussten in Leipzig ab Januar 1942 arbeiten. Mit dem Einsatz von KZ-Häftlingen in den Leipziger Rüstungsbetrieben ab März 1943 verbunden ist die Bildung von Außenlagern des KZ Buchenwald in unmittelbarer Nähe der Produktionsstätten.Klar wird auch: Das System war so flächendeckend, dass es keinem Deutschen verborgen bleiben konnte. Die beiden Autoren geben für die Erla-Werke für 1943 eine Gesamtbelegschaft von 24.991 Männern und Frauen an, davon 16.032 Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge.

Untergebracht waren diese Menschen ebenso flächendeckend an vielen Orten der Stadt, wie die beiden Autoren zusammengetragen haben. An der Pfaffendorfer Straße 31 beispielsweise, dem Gelände des heutigen Gondwana-Landes. Bevorzugt genutzte Unterbringungsorte waren zudem die Säle von Gasthäusern, Sportanlagen und Vereinshäusern ganz verschiedener Ursprungsnutzung.

Der systematische Einsatz der Zwangsarbeiter folgte dem rassistischen Ziel “Vernichtung durch Arbeit”. Harte Arbeit, schlechte Lebensbedingungen und völlig unzureichende Ernährung waren Bestandteile des Programms. Und insofern Teil der politischen Ökonomie des Nationalsozialismus, der den “deutschen Volksgenossen” während des Krieges eine vergleichsweise auskömmliche Versorgung bot. Was wiederum systemstabilisierend wirkte.

Bei aller Betonung der Systematik und den Dimension dieses Verbrechens dürfen Einzelschicksale nicht vergessen werden. Auch hier haben Jelena und Karl-Heinz Rother mit ihren Recherchen wichtige Pionierarbeit geleistet.

In der Broschüre ist die Einstellung der Produktion in den Erla-Werken auf den 19. Mai 1945 datiert. Es folgte die Demontage des Werkes und schließlich 1949 die Löschung des Unternehmens aus dem Handelsregister der Stadt Leipzig. Flugzeugproduktion nebst Luftfahrt zu militärischen und zivilen Zwecken hatten die alliierten Sieger den Deutschen fürs Erste verboten.

Gedenken an die Todesmärsche

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Mit dem nahenden Ende ihrer Herrschaft wurde die NS-Mordmaschinerie vollends zur Furie. Tötungen von Häftlingen und Zwangsarbeitern waren an der Tagesordnung. Nach der Aufgabe der Lager wurden die geschundenen Menschen auf Märsche durch die noch nicht befreiten Gebiete Deutschlands gehetzt. Auch hierbei war das Massensterben einkalkuliert. Deshalb hat sich hierfür die Bezeichnung Todesmärsche durchgesetzt.

An diese Todesmärsche im Frühjahr 1945 in Leipzig und dem Leipziger Land wollen auch in diesem Jahr wieder verschiedene Initiativen erinnern. Zu ihnen zählen die Gruppe “Gedenkmarsch für die Opfer der Todesmärsche 1945” Leipzig und Wurzen, der Leipziger Bund der Antifaschisten BdA sowie das Netzwerk für Demokratische Kultur NDK in Wurzen. Am Sonntag, 5. Mai 2013, wollen sie dazu Teile der historisch verbürgten Marschstrecken ablaufen.

In diesem Jahr beginnt die Aktion an der LVB-Haltestelle “Parkallee” in Schönau/ Grünau. Hier bestand zwischen August 1944 und April 1945 ein Außenlager des KZ Buchenwald. Die hier inhaftierten etwa 500 ungarischen Jüdinnen mussten in den nahen ATG-Werken Zwangsarbeit verrichten. An Worte des Gedenkens des Arbeitskreises “Grünau hat Geschichte” wird sich die erneute Installation einer Gedenktafel anschließen. Diese entstand im Frühjahr 2012 auf Initiative von Schülern und Lehrern der Freien Schule an der Alten Salzstraße.

Die Veranstaltung in der Parkallee beginnt am Sonntag, 5. Mai, 9 Uhr.

www.vvn-bda-leipzig.de

www.ndk-wurzen.de

www.gedenkmarsch-leipzig.de

Buchtipp: Karl-Heinz Rother und Jelena Rother “Die Erla-Werke GmbH und das Massaker von Abtnaundorf”, Bund der Antifaschisten e.V. (BdA), sitz Leipzig/Stadtverband Leipzig der Verfolgten des Naziregimes (VVN) 2013

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