Ein bisschen ist es an diesem Abend des 23. Oktober 2012 im Kabarettheater Sanftwut wie bei einem Sportwettkampf. Es geht nicht um Weltmeistergürtel, auch nicht um gelbe Trikots oder Champagnerduschen. Es geht auch diesmal um schnödes Porzellan. Schönes Porzellan. Porzellan für die Herzen der Kaffeesachsen: die Gaffeganne 2012. "Ohne Gaffee gönn mer nich gämpfn!"

So ungefähr haben das mal vor 250 Jahren sächsische Soldaten gesagt. Heißt es. Und selbst wenn diese Selbstaussage frei erfunden sein sollte, sie beschreibt einen der liebenswertesten Wesenszüge der (Ober-)Sachsen: Die Fähigkeit, für ein paar wichtige Dinge als den Sieg eines durchgeknallten Preußenkönigs den Kampf zu verweigern, vom Schlachtfeld zu gehen oder die Seiten zu wechseln.

Wechseln sie heute die Seiten? Nein. Sie machen sich nur warm, lockern die Muskeln, konzentrieren sich für den härtesten aller sächsischen Wettkämpfe: den Rezitationswettbewerb um die “Gaffeeganne”, den die Lene-Voigt-Gesellschaft nun seit 14 Jahren jedes Jahr veranstaltet. Es ist also der 15. 15 Teilnehmer haben sich angemeldet. Das hätte beinah geklappt. Doch einer – die Startnummer 13 – hat kurzfristig wegen Krankheit abgesagt.

Die Messlatte liegt hoch. Das sorgt für Lampenfieber. Selbst bei Ostsachsen, die eigentlich gewohnt sind, auf der Bühne zu stehen. Wie Heike Greulich und Inge Steitmann von der Mundartbühne Borna. Seit sechs Jahren macht die Bühne Werbung in Sachen sächsischer Mundart. Muss man ja, wo alle Jahre wieder eine neue Umfrage behauptet, das Sächsische sei unbeliebt. Auch Jens Müller hat Bühnenerfahrung: Er ist mit den Fischelanden Gaffeedanden unterwegs und diesmal schon zum 10. Mal am Start. Wenn es um Gaffee geht, können Sachsen ausdauernd sein. Aber den Rekord hält Jens Müller nicht. Den hält Joachim Rehfeld, der eigentlich schon das 15. Mal antreten wollte. Aber zwei Mal ging seine Anmeldung im Nirwana verloren.
Diesmal hat er es als 15. in die Runde geschafft. Beim vorjährigen Wettbewerb hat er für seine Ausdauer einen Anerkennungspreis bekommen. Denn bei der “Gaffeeganne” geht es nur manchmal verbissen um den Sieg. Meistens geht es um Promotion. Promotion in Sachen Lene Voigt und sächsische Mundart. Wobei Klaus Hörold ein nicht ganz unwichtiges Wort sagt: Wer aus Borna kommt, dem müssen die mundartlichen Texte von Lene Voigt nicht leicht von den Lippen gehen. Zwischen Leipzig und Borna verläuft eine Grenze. Eine historische Sprachgrenze zwischen dem Südwestosterländischen (also Leipziger) Dialekt und dem Westmeißnischen Dialekt, der schon zu den um Meißen und Dresden gesprochenen Dialektformen gehört. zu Klaus Hörold kommen wir noch. Aber in beschwingter Rede sprach er an diesem Abend auch die Abwesenden an: die Bewohner Sachsen-Anhalts “jenseits von Delitzsch”, die bis Wittenberg und Jüterbog hinauf natürlich auch zum Kreis der sächsischen Mundarten gehören.

Von dort ist kein Starter angereist. Dafür kam einer aus Kreuzberg, seinem Berliner Exil, wie Rainer Krötzsch es formuliert, der schon immer mal bei der “Gaffeeganne” antreten wollte als echter Leipziger. Erst jetzt hat es geklappt. Beinah wäre er mit dem Zug angereist. Aber nur beinah. Trotzdem trägt er “Am Hauptbahnhof” vor. Und spätestens ab da hat der Abend eine sentimentale Note. Ganz freiwillig geht kein Sachse ins Exil. Im besten Fall ist es das Leben, das ihn treibt. Oder sie. Gleich zwei mal bekommen die Zuhörer im Saal Lene Voigts Gedicht “Einer erwachsenen Tochter” zu hören, wohl das schönste Gedicht, das je aus Muttersicht über eine Tochter geschrieben wurde. Schreiben konnte es wohl nur die 1935 im Flensburger Exil lebende Lene, die selbst nie eine Tochter hatte.

Dafür haben die jungen Mütter, die an diesem Abend über ihre Tochter nachdenken, jeweils gleich zwei Töchter. Und sind stolz darauf. Auch wenn mancher, der an diesem Abend auf die Bühne klettert, schon grau um die Stirn und etwas wackelig auf den Beinen ist. Es ist kein Seniorenwettbewerb. Der Wachwechsel ist ganz still im Gang. Und der ganz spezielle ostsächsische Humor, der so gern zwischen Herzensgüte und Bosheit schwankt, lebt weiter. Es ist ja bekanntlich eine Selbstcharakterisierung der Sachsen, wenn sie sich als helle, heeflich und heemdiggsch bezeichnen. So ehrlich sind andere nicht über sich selbst.
Und wenn einer wie Roland Kirsten aus Ebersbach (Bad Lausick) Lenes “Erkenntnis” vorträgt, dann steckt auch ein Stück jüngere Lebenserfahrung mit darin. Da rezitiert einer mit tiefem Ernst vom “Kräutlein Neid”. Warum Lene Voigt im Jahr 2012 wieder zu einigem Ruhm gekommen ist, merkt das Publikum im Anschluss an den Wettbewerb. Da hat die Lene-Voigt-Gesellschaft ein kleines Programm mit Texten von Edwin Bormann organisiert. Der hat – zusammen mit Georg Bötticher – eine Gedenktafel am Alten Rathaus. Und er veröffentlichte schon 40 Jahre vor Lene Voigt sächsische Mundarttexte. Doch ihm fehlte der “heemdigsche” Blick für das Tiefmenschliche, der Lene Voigt so eigen war. Das Programm ist seinem 100. Todestag gewidmet, der dieses Jahr im Mai dran war. Die Leipziger kennen ihn zumindest über ein etwas abgewandeltes Zitat: “Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen”.

Um den Nachwuchs ist der Lene-Voigt-Gesellschaft nicht mehr so bang wie vor ein paar Jahren noch. An diesem Abend zeigen die drei besten aus dem “Gagaudebbchen”-Wettbewerb, wie gut sie schon können mit Lene Voigts Texten: Charlotte Meißner, Karlheinz Kühn und Sarah Fechner. Die logische Frage in den nächsten zwei Stunden: Wer von den Erwachsenen erweist sich der Texte und der Aussprache als so sicher, dass ihm die Jury die “Gaffeeganne” zuerkennt?

Dass Judith Bürkle, die diesmal zum ersten Mal dabei war und im adretten Fräulein-Kostüm auf die Bühne kam, zu den Favoriten zählen würde, war nach ihrem Auftritt mit dem “Hibbodrom-Schdudchen” klar. Sie bekam am Ende des Abends auch den Publikumspreis zugesprochen.

Bei der Siegerkür für die “Gaffeeganne” ging es wesentlich knapper zu, denn die Jury war streng und achtete auch auf die so gern gesuchte Einheit aus Auftritt und Text, Einfühlung und runder Darbietung. Sie entschied sich nach einiger Diskussion für Jürgen Butze, der zwar kein Apfelmus mag, aber das Gedicht “Abbelmus” genauso souverän und hintersinnig vortrug wie den “Monolog des kleinen Peter”. Einziger Kostümwechsel: eine helle Bommelmütze wurde gegen eine dunkle ausgetauscht. “Zu jedem Text die richtige Mütze”, ist sein Motto. Am Ende war er baff. Aber auch tief zufrieden. Denn die Texte von Lene Voigt begleiten den gelernten Werkzeugmacher und Ingenieur für Anlagenbau seit seiner Kindheit. “Das hat mit meine Mutter mitgegeben”, sagt er. Sie hat – bei Familienfesten und Geburtstagsfeiern – die Anwesenden mit sächsischer Lyrik unterhalten. Darunter die unverwechselbaren Gedichte von Lene Voigt, die den in Gohlis Aufgewachsenen bis heute begleiten. Heute wohnt er in Möckern.

Blieb noch ein Preis, den die Lene-Voigt-Gesellschaft ebenfalls seit Jahren verleiht: die Ehrengaffeeganne. Die bekommt immer jemand, der sich um Lene Voigt oder die Pflege der sächsischen Mundart besonders verdient gemacht hat. Das ist quasi ein Orden. Und den bekam diesmal Klaus Hörold überreicht, Mitgründer des Sachsenbuch-Verlages, der sich Anfang der 1990er Jahre mit dem “Großen Lene-Voigt-Buch” auf den Markt wagte. Das Buch, das auch viele der Wettbewerbsteilnehmer an diesem Abend mit sich schleppen, kam 2010 in der dritten Auflage heraus. Neben den in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erschienenen Werkausgaben von Lene Voigt ist das mittlerweile der Lesestandard für Freunde der “Leipziger Nachtigall”.

Kaffee in großen Tüten gab’s natürlich für alle Teilnehmer. Denn: “”Ohne Gaffee gönn mer nich gämpfn!”

www.lene-voigt-gesellschaft.de
www.sachsenbuecher.de
www.gaffeedanden.de

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