Danach haben sich auch viele gesehnt im Corona-Shutdown: Einfach mal wieder abends in einer Bar sitzen dürfen, Gläschen oder Tässchen auf dem Tisch, entspannt zurückgelehnt und der Musik lauschen, die vier ambitionierte Herren im gedimmten Scheinwerferlicht machen – locker, zuweilen überschwänglich, herrlich beswingt und dennoch so, als würden sie so nebenbei ein paar fröhliche Lebensgeschichten erzählen. Das kann man jetzt tatsächlich haben – sogar daheim, abends, wenn man den Tag von sich abfließen lassen möchte.

Es ist eine CD, die eigentlich all die Erwartungsvollen beschenkt, die sich schon immer eine ganze Scheibe von „Hot Club d’Allemagne“ gewünscht haben. Jetzt ist sie da und heißt natürlich: „Hot Club d’Allemagne“.

Es ist das neue Album des gleichnamigen Gypsy Jazz-Quartetts aus Leipzig, Bestandsaufnahme und Zukunftsaussicht zugleich. Mehr als ein Jahrzehnt ist seit der Veröffentlichung des letzten Studioalbums „Rendez-Vous avec Django Reinhardt“ vergangen. Womit schon das große Vorbild des 2002 in Leipzig gegründeten Quartetts genannt ist. Django Reinhardt ist bis heute eine Legende.

Untätig war der Club der leidenschaftlichen Jazz Manouche-Spezialisten aus Leipzig währenddessen keineswegs. Immer unterwegs, durchgehend auf Bühnen präsent, hielt die Band konstant Ausschau nach neuen Anknüpfungspunkten für jene Musikspielart, die Anfang der 1930er-Jahre von Django Reinhardt und Stéphane Grappelli mit der Gründung des „Quintette du Hot Club de France“ ins Leben gerufen worden war.

Eine Band denkt über den modernen Gypsy-Swing nach

Man kann eine Musikform, die bald mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hat, natürlich strikt traditionsbewusst betrachten und ihr entsprechend mit ewiger Repertoirewiederholung museale Statik zuspielen. Aber die Verbindung aus traditioneller Sinti-Musik und amerikanischem Jazz widerspricht schon in ihrer DNA der Nostalgie.

Dem Jazz wohnt seit jeher das Mandat inne, sentimentalen Rückblick mit neugieriger Vorausschau zu umgehen. Die vier Instrumentalisten des Hot Club d’Allemagne führen dieses Mandat auf ihrem neuen Album begeistert weiter aus: Mit erweitertem Melodienverständnis, größerem Dynamikumfang, Humor und in neuer Besetzung.

Vor drei Jahren stießen Gunter Pasler am Kontrabass und der Rhythmusgitarren-Spezialist Franziskus Sparsbrod zur Band, deren ursprünglichen Kern bereits 2002 der Gitarrist/Komponist Kalle Vogel und Geiger Thomas Prokein bildeten. Den Begriff Facelifting lehnt das Quartett im Rückblick auf die Neuformierung 2017 ab. Aber als Neudefinition ihrer Band wollen die vier Musiker den Personalwechsel gerne betrachtet wissen. Der zog mehr Energie, Professionalität und Intensität in der Auseinandersetzung mit der Musik nach sich.

„Entsprechend empfinden wir das neue Album wie eine Art Debüt, obwohl es schon drei Studioalben der Band gibt“, sagt Franziskus Sparsbrod. „Und weil sich die Platte wie ein Neueinstieg in die Materie Hot Club d’Allemagne anfühlt, haben wir sie nach uns benannt. Sie bildet, wenn man so will, die Essenz unseres Quartetts in neuer Form ab.“

Drei Tage Studio

Ohne Overdubs, live im Studio in nur drei Tagen eingespielt, verströmen die elf Stücke des neuen Albums förmlich jene Hingabe und Präzision, die das Alleinstellungsmerkmal des Hot Club d’Allemange ausmacht. Hier schließen sich spieltechnisches Können und maximale emotionale Intensität nicht aus, sondern bedingen einander. Vier Stücke hat Kalle Vogel für die Platte komponiert, die gleichberechtigt neben zwei Nummern aus der Feder Django Reinhardts und Kompositionen des Great American Songbook-Zuarbeiters Walter Donaldson, des Swing Manouche-Erneuerers Dorado Schmitt und des Jazz-Pianisten Michel Petrucciani stehen.

Das Fremdrepertoire wird von der bemerkenswerten Eigenschaft des Quartetts getragen, bekannte Stücke scheinbar mühelos so lebhaft zu arrangieren als wären sie gerade neu geboren worden. Darin zucken die feurigen Akkorde wie Blitze auf, die unmittelbar revitalisierend in die Knochen fahren.

Was wäre das Leben, was wäre die Liebe, von der der Gypsy Swing seit jeher in begeisternder Weise erzählt, ohne Augenzwinkern, ohne Humor? Dem trägt Kalle Vogels neues Stück „Pipers Walk“ in Form eines Zitats aus dem Pop-Gassenhauer „Day Tripper“ Rechnung. Aus dem Django-Werk wählten die Leipziger eher außergewöhnliche Kompositionen wie das beinahe avantgardistisch anmutende „Diminushing“ aus. Petruccianis „Looking Up“ wirkt in diesem Repertoire-Kontext wie ein Straight-Ahead-Jazz-Brückenschlag zu lateinamerikanisch beeinflussten Vogel-Nummern wie „Chicco“. Darin lustwandelt Thomas Prokeins 5-saitige Violine zwischen Gypsy Jazz und Samba.

Die neue Musik des Hot Club d’Allemagne ist – und hier wird die Klischeekiste vorsichtig einen Spalt weit geöffnet – heiß. So heiß, dass Rauchschwaden das Albumcover zieren. Ob die vier Musiker ein bisschen ernst dreinschauen, weil sich die filterlose Gauloises im Zeitalter der Unsterblichkeit in den Mundwinkeln verbietet? Der feine Bruch zwischen Ernsthaftigkeit und Humor macht das Bild aus. Und die Musik des Hot Club d’Allemagne.

Hot Club d’Allemagne „Hot Club d’Allemagne“, Kick the Flame 2020, LC: 19839

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