Wie können Menschen aus anderen Kulturkreisen in unsere Gemeinschaft integriert werden? Diese Frage ist höchst vielschichtig - und wohl eine der meist diskutierten in der Politik. Das Projekt "8 km² Integration - der Leipziger Westen aus subjektiver interkultureller Frauensicht" versucht, auf diese Frage eine Antwort zu geben.

Buch als verbindendes Element

Noch vor Weihnachten soll ein Buch entstehen, das von den Frauen und den Geschichten, die sie an ihrem neuen Wohnort erleben, handeln wird. Beim zweiten Treffen am Freitag, 29. Juli, tauchten die Teilnehmerinnen dann auch gleich in die Materie ein: die vorgeschlagenen Themen in Kapitel zusammenfassen und sich in Arbeitsgruppen organisieren.

Kinderbetreuung selbstverständlich

Es ist kurz vor 10 an diesem regnerischen Tag, als sich die eintreffenden Frauen im sonnengelben Café Kap West herzlich begrüßen. Sie kennen sich bereits von früheren Treffen. Tische werden noch gerückt, zwei Kinder wuseln sich zwischen den Beinen ihrer Mütter durch zur Spielecke. “Die Einrichtung einer Kinderbetreuung ist eine wichtige Voraussetzung, damit ein ungestörtes, gemütliches Beisammensein entstehen kann”, freut sich Projektleiterin Eva Brackelmann. Eines der Kinder ist ihr eigenes.

Das kommt mir aber spanisch vor

Die Tür geht auf, spanische Wortfetzen vermischen sich mit deutschem Lachen. Die Frauen nehmen auf den Stühlen rings um die entstandene Tafel Platz. Projektleiterin Eva Brackelmann sitzt am Kopf, rechts neben ihr Co-Leiterin Katharina Kleinschmidt. Die beiden koordinieren das Vorhaben mit Christiane Eisler, die die Beitragsgestalterinnen als Fotografin unterstützen wird, heute aber nicht dabei sein kann. Ein Handy klingelt, per Kurznachricht wird über ein verspätetes Eintreffen Bescheid gegeben. Es ist schon lange nach zehn, als die künftigen Buchgestalterinnen dann ganz offiziell begrüßt werden.

Blitzschnelle Vorstellungsrunde

In einer sogenannten Blitzrunde sollen sich die Teilnehmerinnen reihum vorstellen und in ein paar Sätzen sagen, wie sie ihren Tag begonnen haben. Katharina Kleinschmidt macht den Auftakt, danach folgt Irena, die von Mallorca nach Deutschland gekommen ist. Ihre Sprachkenntnisse sind noch nicht so gut, weshalb sie zu erkennen gibt, dass sie das Gesagte nicht ganz verstanden habe. Alle lachen, aber nicht, weil sie Irena auslachen, nein, über ihre eigene Vergesslichkeit. Denn natürlich muss erst einmal übersetzt werden, dafür sind ja die eigens vom Projekt eingestellten Dolmetscherinnen da. Blanca übersetzt auf Spanisch, Larissa auf Russisch. “Andere Sprachen werden bis jetzt nicht gebraucht. Wir stellen aber alle bereit”, sagt Brackelmann.

Die Tür steht immer offen

Die letzten Nachzüglerinnen treffen ein, wieder werden Umarmungen ausgetauscht. In gemütlicher Atmosphäre erzählen die Frauen aus Chile, der Ukraine und auch aus Leipzig Kommende weiter über sich und ihren morgendlichen Start, während frischer Kaffee aus den Tassen dampft. Die Kinder spielen friedlich, kommen ab und zu an den Tisch, um zu gucken, ob alles gut ist, und vergnügen sich dann wieder mit der großen Auswahl an Spielzeug.Umzug führte zu Studienwahl

Irena ist an der Reihe, auf Deutsch berichtet sie, dass sie auf der spanischen Ferieninsel mit dem Tourismus aufgewachsen ist und sich deshalb beruflich in diese Richtung orientiert hat. Hier in Leipzig studiere sie nun aber Rechtswissenschaften. Der Umschwung sei mit ihrem Umzug nach Deutschland gekommen. Die Behördengänge hätten ihr gezeigt, dass in der Europäischen Union Migrationsrecht – und damit das Einhalten der Menschenrechte – nicht sehr genau praktiziert würde.

“Den Namen meines deutschen Mannes konnte ich leider nicht annehmen. Da wollten die einen das Papier und die anderen haben das dann wieder abgelehnt und mich dorthin geschickt und so weiter. Aber damit haben sie mir einen großen Wunsch abgeschlagen, nämlich den, mich mit dem Nachnamen in meine deutsche Familie integrieren zu können”, erinnert sich die hochschwangere Spanierin. Durch die Übersetzung entstehen Pausen, die die Zusammenkunft entschleunigen. Eine stillende Mutter lässt in einem das Gefühl eines behaglichen Sonntagsfrühstücks aufkeimen.

Zielgruppe ist Frauen aus dem Leipziger Westen

Reihum wird erzählt. Angela zum Beispiel ist hier in Leipzig geboren, bereits über 50 Jahre, und damit nach eigener Aussage zu alt für den Arbeitsmarkt. Ihre exotische Berufswahl der Verhaltensbiologie mache die Sache nicht einfacher. “Genau deshalb bin ich heute hier”, sagt sie und trifft damit die Zielgruppe ins Schwarze: Ob erwerbslos, in Elternzeit wie die spanischen Teilnehmerinnen oder auf Suche nach beruflicher Neuausrichtung und natürlich eine Frau zu sein, die ihren Lebensmittelpunkt im Leipziger Westen hat, sind die Voraussetzungen, um an dem integrativen Projekt teilnehmen zu können. Leider ist die geforderte Anzahl an Frauen aus Leutzsch, Plagwitz, Alt- und Lindenau, noch nicht erreicht. Es werde aber keine ausgrenzt, die woanders herkomme.

Früheres Buchprojekt ist Vorbild

“Die Sachbearbeiterin beim Jugendamt ist sehr freundlich und hilfsbereit, weil die sehen, dass das letzte Projekt auch geklappt hat.” Brackelmann spricht von einer Broschüre, die im ähnlichen Rahmen im vergangenen Jahr realisiert wurde. Da haben sich die unterschiedlichsten Frauen, auch aus dem Leipziger Westen, gegenseitig interviewt, ein paar davon sind heute hier. Das jetzige Projekt knüpfe an dessen Erfolg an, dass auch auf weitere Bildungsmöglichkeiten aufmerksam machen soll, wenn sich eine für einen Beruf interessiert, der mit dem Produkt Buch zu tun hat.

Interkultureller Ansatz Bedingung

Beim Zuhören wird klar: Den interkulturellen Ansatz erfüllt das Projekt auf jeden Fall. Das ist nämlich auch Bedingung, um die rund 10.000 Euro Bundesmittel aus dem Programm “Stärken vor Ort” zu bekommen. Damit werden beispielsweise die Raummiete oder die Übersetzerinnen bezahlt. “Und natürlich die Kosten für das Buch. Für den Druck ist ein Drittel eingeplant”, so die Projektleitung.Erst vergangene Woche konnten zum letzten Mal Anträge für die Fördermittel eingereicht werden, das Programm läuft Ende 2012 aus.
Subjektiver Ansatz statt wissenschaftlicher Arbeit

“Das finde ich sehr schade, sind es doch genau diese kleinen Projekte, die den größten Effekt haben. Gerade hier im Leipziger Westen, wo so etwas unterrepräsentiert ist, da macht das Mutterzentrum zum Beispiel sehr viel. Und wie hier, über die wohl erste Barriere Sprache jemanden integrieren zu können, wo sie sich gebraucht fühlt, weil nur sie erzählen kann, was sie selbst erlebt hat, ist einfach nachhaltiger”, kritisiert Brackelmann die politische Entscheidung. Denn genau dieser subjektive Aspekt sei ihr total wichtig, solle das Buch auf keinen Fall eine wissenschaftliche Arbeit werden. Den Beitragsformen seien auch keine Grenzen gesetzt: Die Frauen könnten Märchen, Kurzgeschichten oder Berichte schreiben, eine Fotostrecke gestalten oder jemanden interviewen.

Ohne Themen kein Inhalt

Aber um die späteren rund 130 Seiten des Schriftwerkes füllen zu können, braucht es eine Struktur. Deshalb gehen die Projektleiterinnen zum nächsten Punkt über: der Hausaufgabe, sich Themen für das Buch zu überlegen. Jede hat eigene Vorschläge dabei, hochmotiviert werden diese vorgetragen. Zustimmend wird den Ausführungen gelauscht, manches genauer nachgefragt. Da geht es um die Anerkennung von Bildungsabschlüssen, dem “Reinholen von Migranten, um dem Fachkräftemangel und dem demografischen Wandel entgegen zu wirken” oder um die fehlende Brücke in den Alltag nach einer abgeschlossenen Sprachausbildung. Das Problem der hohen Reisekosten wird angesprochen. Wenn die Familie Zuwachs bekommt, sehen viele Enkel erst Jahre nach ihrer Geburt ihre Großeltern. Aber auch die verschiedenen Traditionen und welche noch gelebt würden, müssen thematisiert werden, bringen die Anwesenden ein.

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Auch die Abwesenden haben sich per E-Mail mit Überlegungen beteiligt. Aber die Frauen merken schnell, dass ihre Ideen in ähnliche Richtungen gehen. Eva Brackelmann kristallisiert am Ende drei große Felder heraus: “Das weite Feld des Arbeitsmarkts wird ein Thema sein, da hängt natürlich die wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit dran. Das zweite Feld ist ganz allgemein interkulturelles Verständnis und das dritte die spezielle Situation von Frauen, wie sie hier leben, ob alleine oder in internationalen Partnerschaften.” Die Sprache des Buches soll hauptsächlich Deutsch werden, aber auch spanische oder russische Beiträge enthalten.

September ist Arbeitsphase

Im September sei dann Arbeitsphase, sagen die Projektleiterinnen nach den zwei Stunden intensiver Gespräche noch abschließend. Irena streichelt ihren dicken Bauch und lacht: “Das passt gut, danach ist auch schlecht.” Über E-Mail werden sich nun die Buchgestalterinnen verständigen, um sich in Arbeitsgruppen zu organisieren. Am 19. August sollen dann bereits die ersten Ergebnisse präsentiert werden, wenn sich wieder im Café Kap West getroffen wird. Als sie nach und nach ins Freie treten, spitzelt die Sonne zwischen den Wolken durch. Es ist, als ob das sonnige Gemüt des Cafés und das sehr heimelige Klima bei dieser Frauenrunde auch dem Himmel zum Stimmungsumschwung verholfen haben.

www.kapwest.de

Kontakt für alle, die mitmachen wollen: eva.brackelmann@gmx.de.

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