Ein großer Käfer erwacht auf 507 Meter ü. NN. "Leo?" Eben noch hat er wie ein Berserker gegen scheppernde Raubritter gekämpft, Hiebe ausgeteilt und fröhlich gerufen: Und diesen! Und den! Und diesen ganz besonderen, du Lump! Gleich, Schätzchen, gleich, du siehst doch, dass ich beschäftigt bin. - "Hörst du wohl, Bursch!" - Ihn zieht was am Ohr. Ein Stich erwischt ihn im Kreuz. Er ist hellwach. Schwalben schaukeln vorm Fenster.

Aber Zähnchen putzen und Barthaare stutzen muss er auch heute wieder allein. Es fällt ihm schwer genug. Eine Beule ziert seine Stirn und sein Zwinkerauge ist blau umflort. “Was hast du denn da wieder angestellt, Schnuckibär?” – Raubritter, brummt er, weißt du doch. – Der Herbergswirt fragt erst gar nicht. Er weiß, wie seine Gäste von der Erichsburg zurückkommen. Er weiß auch, wie sie in der zweiten Nacht schlafen. Am dritten Tag ist meist alles gut. Da planen sie die großen Aufstiege.

Leo Leu plant den Abstieg. Hierlang und hierlang, zeigt er dem Wirt auf seiner großen Wanderkarte. Der nickt. Und klopft ihm auch die Schultern, dass es Leo bis in Mark und Steißbein geht. “Autsch”, sagt er.

“Das vergeht”, sagt der Wirt. Und spendiert ihm noch ein Croissant auf den Weg. Denn Leo will auf Abwege. Auch wenn er sich anfangs gar nicht zu fangen weiß vor lauter Freude an einem großen Rotbuchenwald, in dem es tschilpt und kräht und rabt. Von allen Seiten. Ein satter Raubvogel trägt gemächlich eine Taube durch die Luft. In Hecken und Unterholzen fidelt sich was. So fidel war Leo lange nicht, weiß er nun. Und rollt in gemächlichem Wankelmut den Hang hinab, so wie das Schild ihm befiehlt.

“Gehorchst du immer auf Schilder, du Lausbub?”

Du bist ja nicht da, schmollt Leo zurück. Da ist sie tatsächlich still für ein Weilchen. Vielleicht ist sie auch ängstlich hinter seine breiten Schultern geflüchtet und wartet nun ab, ob er wieder Raubrittern begegnet. Doch nicht heute und hier. Selbst unten ist nicht unten. Der Weg schlammt sich durch den Talgrund. Und auf einmal wird Leo begleitet von einem netten Bach. Allerlei Kraut und Pfützen sorgen dafür, dass er hin und her springt zwischen nass und feucht und hoppla. Es rieselt und rauscht. Und beinah braucht er ein Feuerzeug, um das nächste Schild für bildungshungrige Wanderer zu lesen. Mitten im Wald erklärt es ihm, dass er mitten in der Grube “Glückauf Tiefenbach” gelandet ist. Irgendwie. Hinge das Schild nicht da, würde er gar nichts sehen.

Und lernen auch nicht. Im 17. Jahrhundert gingen hier noch zwei Schächte ins Tiefe, Max und Johanna geheißen. Hießen so die Rangen des Bergwerksbesitzers? Oder hieß der Bergwerksbesitzer Max? – Und was grub er hier? – Kohle nicht, das weiß Leo schon. Schwefel- und Kupferkies steht da. Für das Hüttenwerk in Thale, wo es auch ein Hüttenmuseum gibt, das Leo einfach nicht sehen wollte, als er dort war, weil ihm Sleipnir, Wotan und Asgard schon genug waren. Nun steht er hier auf 390 Meter NN. So ist er nun also schon heruntergekommen.

Ein kleiner Gedanke zwickt ihn: Da musst du auch wieder hinauf.

Macht nix, sagt er. Und wandert weiter den Weg, der sich mit dem Bach ums Gelände streitet. Mal führt eine Brücke drüber, mal drumherum. Mal verschwindet die Brücke zwischen gut genährten Nesseln. Da läuft Leo doch lieber über wacklige Steine im Bach. Wer weiß, was er fände, wenn er in die Nesseln ginge? Da nässt er sich lieber die Füße und genießt das regelmäßige “Huch! Mir gruselt’s!” im Nacken. Hätte er seine brotduftende Bäckerin mitgenommen, er wäre schon längst umgekehrt worden. Das ist ein Weg, den man mit wasserscheuen Kaffeemädchen nicht laufen kann. Sie scheuen bei der ersten Furt. Und dann sagen sie “Huch! Ich hab was gehört!”

Das ist mein Herz.

“Nein. Was anderes. Was Nasses.”

Ich verteidige dich.

“Och, du mit deine Raubritters!”Er sieht weder ein Schwein noch ein Wildes. Nicht mal einen Biber. Klettert über Brückchen, tapst fröhlich durch immer breitere Furten. Denn jeder Bach – so hat es ihm früher einst mal sein Lehrer erzählt – fließt in ein Flüsschen. Man muss nur dranbleiben. Wer umkehrt, kommt nie ans Meer.

Ans Meer kommt auch er heute nicht. Auf der Karte war’s nicht drauf. Aber er kommt ans Flüsschen, das unverhofft den ganzen Bach verschluckt. “Hoppla!” Fast hätte es auch den übermütigen Leo …

Aber der weiß den Weg. Denn noch weiter unten im Tal warten zwei Kaffeetassen auf ihn. Zwar nur eingemalte auf der Karte. Aber immerhin. Es gibt Hoffnung, mitwandernde Gesellschaft zu finden in Treseburg, wo das Flüsschen, das hier Luppbode heißt, in die Bode fließt, die eigentlich Bodo heißen müsste, weil ja der König Bodo hineingefallen ist. Er hat also die Wahl. Sogar eine alte Ritterburg wird ihm wieder versprochen. “Nein, heute nicht”, sagt er keck auf der Brücke. Hinter den zwei Tassen. Die Tische waren ihm zu leer. Und Croissants gab’s auch keine.

“Moppelchen”, sagt seine Schöne ihm ins Ohr.

Vielleicht kann sie heute nicht in seine raubritterlichen Gedanken schauen. Die sind zwar nur Kraut und Unterholz. Aber tapfer, wie sich das gehört für ein ausgereiftes Mannsbild. Drei verwirrte Reisende sieht er vor dem größten Schilderbaum, den er hier je gesehen hat. Daheim in L. hat er noch ganz andere Schilderwälder gesehen. Auf den meisten stand “Schilda”. Aber hier ist das was anderes. Hier rauscht und gurgelt es unter seinen Füßen.

“Bodo!” ruft irgendwo irgendwer, dass es hallt. Ein kleines Plakettchen verrät: Jetzt ist er auf 270 über NN. Und rechterdings verliert sich ein Pfad in die Dunkelheit. Wie immer, wenn’s hier irgendwo spannend wird. “Du wirst doch nicht”, erschrickt sich seine kleine Begleiterin.

Aber doch, sagt er mannlich. Und stürzt sich hinein. Denn das ist der Schlupf ins Bodetal. Er braucht gar nicht zu eilen. Flugs ist er wieder ganz alleinig mit sich und dem Wald. “Und ich?”

10 Kilometer, mein Täubchen. Ohne Schmollen und Knickern und “Mir tun die Füße weh!”

“Aber mir tun meine armen Füßchen schon weh!”

Ich jedenfalls laufe.

“Und nimmst mich wieder nicht mit!”

Klar nehm ich dich mit. Ich brauch nur “Schnuckiputz!” zu sagen.

“Du sagst nie ‘Schnuckiputz’!”

Schnuckiputz!

Und siehe da. Beinah sieht man zwei hineinsprudeln ins Bodetal, von dem schon Johann Wolfgang von Goethe … Nein. Davon weiß der glückliche Wanderer jetzt noch nichts. Und das große weiße Schild hat er diesmal erst gar nicht beachtet, das jeden, der hier unverweilt passiert, noch einmal warnt vor den “Falling Rocks!” – Und hätt er’s gelesen, er hätte wohl wieder Gedanken bekommen, die ihm ein heftiges Schmollen eingetragen hätten.

Hat er aber nicht. Und so interessiert ihn das Schurren und Knirschen rechterhands nicht die Bohne. Das Gurgeln und Rauschen links umso mehr. Und das kleine Kichern im Bauch, wenn er “Schnuckiputz!” sagt.

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