Das hätte in Bornhagen vor kurzer Zeit sicher noch keiner gedacht: Dass der kleine Ort im Thüringischen nahe der Hessischen Grenze mal berühmt werden würde. Dieser Tage ist es bekanntlich dennoch geschehen: Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), eine Vereinigung von philosophisch geprägten Aktionskünstlern, hat dem prominentesten Einwohner des Ortes, Björn Höcke, ein Denkmal vor die Fenster gestellt: 24 Stelen, dem Holocaust-Mahnmal in Berlin nachempfunden, zur Auffrischung Höckes Erinnerung an den von den Nazis organisatorisch vorbildlich geplanten Völkermord.

Allein: Die Meinungen über diesen zweifellos ungewöhnlichen Nachhilfeversuch scheinen in der Bevölkerung so weit auseinanderzugehen wie die Beine eines Boxenluders am Hockenheimring.

Christian Carius zum Beispiel, Mitglied der CDU und Thüringens Landtagspräsident, hat ein sofortiges Ende der Mahnmalaktion vor dem Privathaus Höckes gefordert: „Hier wird unter dem Deckmantel künstlerischer Freiheit ein skandalöser Angriff auf die Freiheit des Mandats, die Unversehrtheit einer Person, von Familie und Privatsphäre unternommen“, deklamierte er und forderte strikte Ermittlungen.

Skandalös? Ich würde so weit nicht gehen. Aber es beschäftigt mich. Christian Carius und ich sind beide in einer Thüringer Kleinstadt aufgewachsen. Derselben sogar. Wir besuchten dieselbe Schule. Obwohl der Landtagspräsident etwas jünger als ich ist, müssen wir doch eine Schnittmenge gemeinsamer Lehrer gehabt haben, möglicherweise besitzen wir auch heute eine Schnittmenge diverser Lebensanschauungen, hier aber sind wir unterschiedlicher Meinung, wie man an eine solche Sache am besten heranzugehen hat.

Seit dem Bornhagen-GAU nämlich geht mir mal wieder Tucholsky nicht aus dem Kopf: „In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht“, soll dieser gesagt haben und, hm, ja, man kriegt das Gefühl nicht los, es habe sich seitdem nicht viel geändert.

Mir fehlt in der aufgebrachten Debatte um die Privatsphäre und die Unversehrtheit des AfD-Politikers ein bisschen die Rückbesinnung auf nicht Unwesentliches – den Grund für die Ideen des ZPS. Höckes unsägliche Rede in Dresden im Januar dieses Jahres. Erinnern wir uns kurz: Es war nahezu ruhig geworden um Björn Höcke in den Monaten zuvor. Das ist ja immer ein bisschen verdächtig. Und richtig: Pünktlich am Vorabend des Jahrestages der Gründung des Deutschen Reiches 1871 – war er wieder da.

Er war wieder da und hielt eine erwartungsgemäß unsäglich würdelose Schreihals-Rede mit Parolen, die es hier aus Gründen nicht zu wiederholen gilt: Nur so viel: Höcke hatte genug vom Holocaust-Gedöns in der deutschen Geschichtsschreibung. Er wollte mitteilen, dass er etwas Neues will.  Etwas Neues, was aber eigentlich ganz alt ist und kaum wieder herstellbar – neue Preußen, stolze Deutsche, er will irgendwie ein Minderwertigkeitskomplex-Gebirge, eine Art Kyffhäuser schmelzen, unter dem AfD-Gefühle offensichtlich schlummern wie Kaiser Barbarossa, bis dato aber nur jeglichen folgerichtigen und humanistischen Gedankengang verwehren.

Schnell wurde klar: Höcke hat sich mit dieser Rede von der letzten Faser Anstand verabschiedet, die ihm vielleicht aus Versehen noch am Kittel haftete.

Vielleicht haben das einige schon wieder vergessen. Elf Monate sind viel in der Informationszeitrechnung unserer Epoche. Wir haben viel zu verarbeiten gehabt seither.

Mir dröhnt der Tenor noch immer in den Ohren. Trotz allem. Höcke hatte sich mit seinen Worten coram publico über etwas hinweggesetzt, was wie ein unausgesprochener Pakt in unserer Gesellschaft noch immer irgendwie durchzuhalten schien – ein Funke Respekt im öffentlichen Diskurs vor dem Schicksal Millionen ermordeter und verfolgter Juden während der Nazizeit.

Es wirkt wie eine Farce, dass man nur ein paar Gedankenmeter weiter zu RTLII laufen muss, um Höckes Grenzübertritt und sein „Weg-mit-der-dämlichen-Erinnerungskultur!“ ad absurdum zu führen. Dort wurde nämlich um die Weihnachtszeit herum, kurze Zeit vor der Dresdner Rede also, „Schindlers Liste“ gezeigt – tatsächlich ohne eine einzige Werbeunterbrechung. Das will etwas heißen.

Ich sah mir diesen Film an: Mittlerweile zum 15. oder 20. Mal. Ich könnte das auch ein weiteres Mal tun, ohne dass auch ein einziges Mal meine Aufmerksamkeit wegkippte oder ich meine Ergriffenheit an bestimmten Stellen verlöre. Ich weiß natürlich, dass Spielberg an manchen Stellen zu hollywoodmäßig aufgetragen hat, manch Konzession an seine Herkunftszunft gemacht hat. Aber das ist nebensächlich. Wer Hollywood Pathos verbietet, kann auch verbieten, dass es nachts dunkel wird.

Der Film ist und bleibt groß in seinem brennglasartigen Draufhalten, was damals los war. Er bleibt groß durch seine Darsteller. Er bleibt groß in seinen dramaturgischen Einfällen, die den menschlichen Kern so vieler treffen.

Wer will sagen, dass man das nicht darf? Wer will sagen, das sei rührselig in mancher Hinsicht? Wer will sagen, dass die Welt nicht oft sogar rührselig ist jenseits des Kinos?

Ich weiß noch, wie ich „Schindlers Liste“ das erste Mal sah. Es muss 1994 oder 1995 gewesen sein. Es war Winter, es lag jede Menge Schnee und wir waren Studenten. Wir haben eine Schneeballschlacht gemacht auf dem Weg zum Kino und haben geweint auf dem Rückweg.

Und zweiundzwanzig Jahre, unzählige Schneeballschlachten, Kinofilme und sonstige Erfahrungen später fühle ich genau dasselbe. Weiß vielleicht ein bisschen mehr jetzt über diese Zeit, will und muss noch viel mehr wissen.

Ich will nicht aufhören damit. Nie. Ich will nicht, dass ein Sportlehrer kommt, und nach Belieben in der Geschichte herumfingert – einer Geschichte, die zu viele Geschichten birgt, wie der Mensch dem Menschen ans Leben will. In der Geschichte rührt und dann in der großen Politik. Aber das entscheidet der Wähler. Deshalb hätte ich statt der Ermittlungen gegen die Künstler mit dem Stelen-Einfall zunächst eine Art konservatives Ansinnen kundgetan: Ein Aufruf mit großem Tamtam, die Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit unbedingt zu bewahren. Aktiv. Meinetwegen sogar proaktiv, wer das mag.

Man kann es offenbar nicht oft genug sagen: Zeigt  diese Filme, lest Bücher über diese Zeit, lauscht den allerletzten lebenden Zeugen! Knallt euch zu mit diesen Erinnerungen. Macht es nicht spröde, kopflastig, schulmeisterleinhaft. Fahrt nach Auschwitz, guckt Youtube-Interwiews, informiert euch. Diskutiert. Nehmt sie zur Kenntnis: Hannah Arendt. Fritz Bauer, Dietrich Bonhoeffer und die Gedanken so vieler anderer kluger Menschen. Denkt. Fühlt (mit)!

Und ganz gleich, wie man politisch von Hause aus gewickelt ist: Lasst Höcke LINKS liegen. Aber niemals, ohne ihm massiv zu widersprechen.

Vergessen wir nicht: Widersprechen ist wie Joggen. Es geht fast überall, aber es wird schwerer, wenn man aus der Übung kommt.

Nachtrag der Redaktion: Hier ruft die “AfD-Totenkopfstandarte” bei dem Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) an, der die Denkmal-Aktion nicht gefällt.

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Die Aufnahmen von da sind echt erschreckend. Nicht nur die Nachbarn schützen ihren Dorf-Nazi, selbst die Polizei greift anscheinend wirklich nur im allerletzten Moment ein, wenn die Aktiisten schon in die Ecke gedrängt und die Fäuste der Angreifer erhoben sind. Das Geschubse und Gezerre vorher wird von den Beamten einfach geduldet. Ich hab sehr großen Respekt vor diesen mutigen Aktivisten, die Reaktionen, die diese immer hervorrufen, bestätigen die Notwendigkeit solcher Aktionen jedesmal.

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