Ich weiß nicht, ob es an der deutschen Obsession mit Mauern liegt, dass Trumps Mauerbau an der Grenze zu Mexiko hierzulande medial so viel Raum einnimmt, während das offizielle Flüchtlingsprogramm der USA ziemlich unterbelichtet bleibt. Frei nach dem Motto: Unsere Mauer ist weg, jetzt beschäftigen wir uns mit den Mauern der anderen. Und unsere Flüchtlinge sind noch da, da haben wir selbst genug mit zu tun.

Aber wie dem auch sei, was meine Aufmerksamkeit heute auf sich gezogen hat, waren jedenfalls die aktuellen Zahlen aus dem amerikanischen Flüchtlingsprogramm. Zwar endet das Steuerjahr 2020 erst am 30. September, weshalb die Daten noch nicht vollständig sind, aber da ich nicht weiß, ob ich bis zum Abschluss dieses Tagebuchs noch alle Daten bekomme, blende ich einfach mal ins Unfertige rein.

Für ein Tagebuch ist das auch kein Problem, schließlich sind Tagebücher per se unfertige Werke. Aber nicht wegen ihres begrenzten Zeitraums, sondern wegen ihres unabdingbaren Gegenwartsblickes, der den Re-Konstruktionen der Historiker entgegengesetzt ist.

Wobei es freilich auch in diesem Falle ohne eine kleine historische Einordnung nicht geht, denn die Veränderungen in der amerikanischen Flüchtlingspolitik werden nur im Längsschnitt verständlich. Ausgangspunkt ist dabei das Jahr 1980, denn seitdem verfügen die Vereinigten Staaten über ein zentral gesteuertes Programm zur Aufnahme von Flüchtlingen, wobei die Aufnahmeobergrenze vom Präsidenten in Absprache mit dem Kongress festgelegt wird.

Die Auswahl der Flüchtlinge erfolgt durch die US-Behörden und unterliegt spezifischen Kategorisierungen und internationalen politischen Konfliktlagen, an denen die Amerikaner nicht selten einen gehörigen Anteil haben. Betrachtet man aber erst mal nur die Zahlen, so zeigt sich folgendes Bild: 1980 lag die Aufnahmeobergrenze bei 231.700 Personen, von denen 207.116 auch tatsächlich ins Land kamen, was einer Auslastung von 89 % entspricht. Das Anfangsjahr war dabei auch zugleich der Höhepunkt, denn im Laufe der Zeit ist die Obergrenze kontinuierlich gesunken, sieht man einmal von den Jahren 1987 bis 1993 und dem Ende der Regierungszeit Barack Obamas ab.

Im jährlichen Mittel lag die Obergrenze zwischen 1980 und 2017 bei 96.300 Flüchtlingen. Tatsächlich aufgenommen wurden im Schnitt rund 81.000 Personen pro Jahr, was einer Auslastung von 84 % entspricht.

Im Steuerjahr 2017, an dem die Obama-Regierung noch einen Anteil hatte und den sie auch entsprechend genutzt hat, wurde die Aufnahmeobergrenze kurzerhand auf 110.000 Personen aufgestockt, obwohl ursprünglich nur 50.000 Plätze geplant waren. Begründet wurde das von der Obama-Administration mit den zunehmenden globalen Konflikten und den immer größer werdenden Migrationsbewegungen. Dazu passt, dass Obama die Obergrenzen in seiner zweiten Amtszeit ausnahmslos voll ausgelastet hat.

Trump hat diese Politik – natürlich, möchte man fast sagen – nicht weitergeführt. Im Steuerjahr 2018, das erstmals komplett von der Trump-Administration bestimmt worden ist, wurde die Obergrenze auf 45.000 Personen gedrosselt. Letztlich aufgenommen wurden aber nur 22.491 Flüchtlinge. Das war nicht nur die geringste Zahl seit 1980, sondern mit 50 % auch die bisher geringste Auslastung, sieht man mal von den beiden Jahren 2002 und 2003 ab, bei denen die amerikanische Flüchtlingspolitik unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 9. September stand.

Im Steuerjahr 2019 wurde die Obergrenze dann auf 30.000 Flüchtlinge runtergeschraubt. Zwar wurden auch 30.000 ins Land gelassen, aber das gelang nur dadurch, dass man kurzerhand 5.000 Flüchtlinge aus Europa aufnahm, obwohl die Obergrenze für diese Gruppe bei 3.000 lag, derweil aus den von Gewalt, Armut und politischer Instabilität geprägten Staaten Lateinamerikas nur gut 800 Flüchtlinge ins Land gelassen wurden, obwohl auch hier 3.000 möglich gewesen wären. Und als wäre das noch nicht genug, hat die Trump-Administration El Salvador, Honduras und Guatemala 2019 auch noch hunderte Millionen Dollar an Entwicklungshilfe gestrichen.

Zugleich gab Trump den US-Bundesstaaten mittels eines Präsidialerlasses erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten die Möglichkeit, aus dem nationalen Flüchtlingsprogramm auszusteigen. Als einziger Bundesstaat hat bisher Texas davon Gebrauch gemacht und seinen Ausstieg mit seiner Lage an der Grenze zu Mexiko und den damit bestehenden Problemen begründet, die keine weitere Aufnahme von Flüchtlingen zuließen.

Für 2020 wurde die nationale Obergrenze von der Trump-Regierung schließlich auf 18.000 Personen gedrückt – und jetzt, wo das Steuerjahr fast vorbei ist, zeigt sich, dass nicht einmal 8.000 auch tatsächlich aufgenommen worden sind. Das liegt natürlich vor allem an Corona. Die Pandemie hat die Aufnahmezahlen endgültig in den Keller rauschen lassen. Im April wurden gerade mal 27 Flüchtlinge aufgenommen, im Mai 134 und im Juni 117.

Trump wird über diese geringen Zahlen nicht traurig sein. Dabei hat gerade Corona gezeigt, wie abhängig die USA von ausländischen Arbeitskräften ist. Den größten Teil machen zweifellos die Millionen Illegalen aus, die vor allem in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, im Dienstleistungsbereich und in den Schlachtbetrieben schuften und rund 5 % der amerikanischen Arbeitnehmerschaft stellen. Corona hat jeden, der es sehen wollte, vor Augen geführt, wie abhängig die USA von diesen Illegalen in Wirklichkeit sind und dass ein bedeutender Anteil von ihnen in den als systemrelevant eingestuften Berufen arbeitet.

Aber auch viele offiziell anerkannte Flüchtlinge sind in diesen Bereichen beschäftigt. Anno 2018 arbeiteten rund 160.000 von ihnen im Gesundheitssektor und 170.000 in der Lebensmittelversorgung. Berichtet wird über diese Leute hierzulande fast nie. Nur einmal im Jahr, wenn Trump die Obergrenze festlegt, wird die neue Zahl mit ein paar schnell geschrieben Zeilen ummantelt – fertig ist der Zeitungsartikel.

Mit den tatsächlichen Aufnahmezahlen beschäftigt sich dabei fast keiner, und auch die Verteilungsschlüssel werden weitgehend ignoriert. Stattdessen Dutzende Berichte über die Mauer. Tenor der meisten Beiträge: Viel ist an der Grenze zu Mexiko nicht passiert. Und das bisschen, was passiert ist, haben die Amerikaner selbst finanziert.

Trumps Vorhaben, die USA komplett abzuriegeln und die Mexikaner dafür zahlen zu lassen, wird in den meisten deutschen Nachrichtenreaktionen als gescheitert betrachtet, was nicht selten mit einem süffisanten Unterton kommentiert wird. Dabei gibt es dazu keinen Grund, denn die Abschottung wächst, und auch wenn das Geld nicht von den Mexikanern kommt, ist es dennoch vorhanden. Zwar sind bisher nur fünf Meilen Mauer neu gebaut worden, aber 321 Meilen Grenze wurden bereits runderneuert. Die bestehenden Anlagen sind dabei massiv verstärkt worden. Insgesamt 478.000 Tonnen Stahl und 526.000 Kubikmeter Beton wurden bisher für den Ausbau verwendet.

Gewiss, das sind alles vorläufige Zahlen, aber gerade wenn man ins Unfertige blendet, ist es wichtig, sich jenen Teil anzuschauen, der bereits fertiggestellt ist. Tagebücher sind Manifestationen des Werdens.

Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.

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