Unser schon seit 2002 bestehender Literaturkurier ist kein politischer Wochenbrief und natürlich schreiben wir am liebsten über gute Bücher, doch durch unser Alltagsleben sind wir ständig mittendrin in den lokalen Ereignissen, die uns und unsere Arbeit beeinflussen. Wie eben jene Demonstration am vergangenen Wochenende, die quasi vor unseren Türen stattfand.

Eigentlich sind wir einigermaßen gestählt, aber eine Veranstaltung wie diese hatten wir bislang noch nicht erlebt. Die Stadt wurde geflutet von Menschen aus ganz Deutschland, die sich aus verschiedensten Strömungen zusammensetzten und die eins einte: Der Protest gegen Coronamaßnahmen und gegen die vermeintlich bestehenden ungerechten Verhältnisse in diesem Land.

Die Stadt war gefühlt so voll wie zuletzt 1989, es gab kaum freie Flächen. Es waren Menschen mit Friedenssymbolen, Anhänger christlicher Gemeinschaften, normale Bürger – darunter viele eventorientierte Reisegruppen aus anderen Bundesländern – die neben ebenfalls zahlreich erschienenen Verschwörungstheoretikern, Rechten, Hooligans und Reichsbürgern die Stadt bevölkerten. Es waren tatsächlich eher 40.000 statt 20.000 Menschen und es herrschte eine von Reden befeuerte und überdrehte Volksfeststimmung.

Wir schlossen gegen Mittag die Buchhandlung im Specks Hof, nachdem wir immer wieder von Besuchern aufgefordert wurden, im und außerhalb des Geschäftes auf die Maskenpflicht zu verzichten. Es war für uns eine unheimliche, teilweise bedrohlich wirkende Erfahrung. Gegen Abend begegnete mir am Brühl ein großer Strom von Menschen, die netten Nachbarn glichen oder gar den eigenen Eltern.

Sie hatten keine Masken, sie trugen Plakate, darauf Politiker in Sträflingsuniformen, sie skandierten „Wir sind das Volk!“, „Wir sind der Soverän!“ und „Keine Diktatur!“, später sah man sie bei einer Polonaise feiernd in der Grimmaischen Straße. Ich selbst sah nette junge Mädchen von nebenan mit Kerzen, Seite an Seite mit stolz beflaggten Nazis, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, aber auch von einer größeren Menge der Demonstranten beklatschte Gewalt gegen Polizei und Auseinandersetzungen mit Teilnehmern der kleinen Gegendemo. Die präsente Polizei war nur noch Begleiter, hatte praktisch kapituliert.

Nun sind einige Tage vergangen und noch immer überwiegt Wut und Scham, wenn wir daran denken, dass gerade Leipzig Ort dieser Ereignisse wurde. Im Bemühen um eine eigene Aufarbeitung des Gesehenen stellte ich einen Brief an den letztlich auch von mir gewählten Oberbürgermeister unserer Stadt auf unsere Internetseite, um herauszufinden, ob man dies alles nicht hätte verhindern müssen.

Aber mir selbst ist klar, dies sind letztlich alles nur hilflose Versuche, mit dem Geschehenen umzugehen. In diesem Rahmen hier, und weil unser Kurier auch außerhalb der Stadt seine Leser/-innen hat, wollte ich diese Gedanken und Eindrücke noch einmal formulieren und teilen. Wohl wissend, dass wir alle kritisch über Corona oder die entsprechenden Maßnahmen denken und vielleicht auch inhaltlich verschiedener Meinung sind.

Peter Hinke ist Inhaber der Connewitzer Verlagsbuchhandlung und schreibt jede Woche eine Rundbrief an die Freunde der CVB mit Buchempfehlungen, einem Gedicht aus dem erstaunlich reichen Fundus moderner Lyrik und einen Text, in dem er über das Welt- und das Stadtgeschehen nachdenkt. Der Beitrag stammt aus dem „Literaturkurier“ vom 12. November 2020.

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