Immer mehr amerikanische Spitzenpolitiker lassen sich öffentlich gegen COVID-19 impfen, um das Vertrauen in den Impfstoff zu stärken und die Bevölkerung zu animieren, ihrem Beispiel zu folgen. Diesmal könnte es klappen. Aber das war nicht immer so. Beim nationalen Impfprogramm gegen die Schweinegrippe 1976 ging so ziemlich alles schief, was schiefgehen konnte.

Es begann alles damit, dass der 19-jährige Soldat David Lewis am 4. Februar 1976 während einer Trainingsübung auf dem Militärstützpunk Fort Dix (New Jersey) zusammenbrach und wenig später starb. Die daraufhin durchgeführten Bluttests ergaben, dass sich Lewis mit einer Variante des Influenza-Erregers H1N1 infiziert hatte. Damals glaubte man noch, dass dieser Erreger genetisch sehr eng mit dem der Spanischen Grippe verwandt sei.

Kurz darauf wurden weitere Soldaten aus Lewis’ Umfeld positiv auf das Virus getestet. Hunderte andere hatten bereits Antikörper entwickelt. Es war offenbar Gefahr im Verzug. Die New York Times griff den Vorfall auf und berichtete am 20. Februar 1976 auf ihrer Titelseite, dass die Möglichkeit besteht, „dass das Virus, das die größte Influenza-Pandemie der modernen Geschichte hervorgerufen hat – die Pandemie von 1918/19 – zurückgekehrt sein könnte“.

Die Verantwortlichen in den Gesundheitsbehörden befürchteten das Schlimmste und rechneten mit bis zu einer Million Toten im Herbst – mehr als die Spanische Grippe in den USA gefordert hatte. Gemeinsam mit der Regierung stampften sie in aller Schnelle das National Influenza Immunization Program aus dem Boden – das bis dahin größte Impfprogramm in der Geschichte der USA.

Zwar hatte es – abgesehen von Lewis – bis März keine weiteren Toten gegeben, dennoch wollte Präsident Ford im Wahljahr kein Risiko eingehen. Am 24. März 1976 verkündete er deshalb, „jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in den Vereinigten Staaten impfen zu lassen“.

Allerdings entwickelte sich das Programm anders als geplant. Es begann bereits damit, dass eine der vier Firmen, die den Impfstoff produzieren sollten, zwei Millionen nutzlose Dosen herstellte, weil sie mit dem falschen Virenstamm gearbeitet hatte. Die Impfungen wurden dadurch um Wochen verzögert. Aber auch andere, unvorhergesehene Ereignisse fuhren dem Programm in die Parade.

Bevor die Impfungen begannen, starben im Juli und August 1976 in Pennsylvania 34 Menschen an Influenza-ähnlichen Symptomen, 150 weitere erkrankten schwer. Zwar konnte innerhalb weniger Tage nachgewiesen werden, dass es sich bei der Krankheit nicht um die Schweinegrippe handelte, aber medial wurde die Sache als Versuch der Regierung gedeutet, Zustimmung zu ihrem Impfprogramm zu bekommen. Frei nach dem Motto: Wenn die ersten anfangen zu sterben, werden sich die Leute schon impfen lassen.

Tatsächlich hatte die Regierung damit nicht das Geringste zu tun. Die Todesfälle waren auf ein bis dahin unbekanntes Bakterium zurückzuführen, das erst im Jahr darauf identifiziert werden konnte. Die Krankheit selbst ging als Legionärskrankheit in die Geschichte ein, da sich die Todesfälle im Zuge einer Veranstaltung der US-Kriegsveteranenvereinigung American Legion ereignet hatten.

In der Bevölkerung aber machte sich Unsicherheit breit. Als das Impfprogramm am 1. Oktober 1976 begann, stand es bereits auf wackligen Füßen. Zudem kam heraus, dass die Impfstoffhersteller von der Politik Entschädigungen verlangt hatten, falls es Nebenwirkungen geben sollte und daraus Schadensersatzsprüche entstünden. Die Regierung hatte der Forderung der Hersteller zugestimmt.

In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Sache allerdings anders gedeutet und das monetäre Problem zu einem medizinischen gemacht. Die Lesart lautete jetzt: Wenn die Impfstoffhersteller Absicherungen verlangen, wird mit dem Impfstoff wohl was nicht in Ordnung sein. Die Folge: Alle Nebenwirkungen und Probleme, die im Gefolge der großangelegten Impfaktionen auftraten, wurden dem Impfstoff zugeschrieben, wodurch das Vertrauen der Bevölkerung sank.

Im Grunde hatte das Immunisierungsvorhaben kaum eine Chance. Und da nützte es auch nichts, dass sich Präsident Ford vor laufenden Fernsehkameras öffentlich impfen ließ. Nachdem im Oktober drei Menschen nach Impfungen gestorben waren, kam das Programm vollends in Bedrängnis, auch wenn sich medizinisch kein Zusammenhang zwischen den Immunisierungen und den Todesfällen herstellen ließ.

Als am 15. Dezember auch noch bei einigen wenigen Geimpften eine schwere Nervenerkrankung namens Guillain-Barré-Syndrom auftrat, wurde das Programm unterbrochen und schließlich am 20. Dezember 1976 eingestellt. Rund 40 Millionen US-Amerikaner waren bis dahin geimpft worden.

Über die damaligen Probleme des nationalen Immunisierungsprogrammes und „The Epidemic That Never Was“ (so der Titel des medizinhistorischen Standardwerkes zum Thema) wird in den USA momentan allerdings kaum berichtet. Und auch hierzulande werden die Ereignisse des Jahres 1976 höchstens mal am Rande erwähnt. Im deutschsprachigen Raum mag das mit der Unkenntnis der Sache und dem Unwissen über die Spezifität historischer Konstellationen in den Vereinigten Staaten zu tun haben.

In den USA, wo in den vergangenen Jahren regelmäßig über die Schweinegrippe und das damalige Impfprogramm berichtet worden ist, scheint die mediale Zurückhaltung aber an einer generell grassierenden Debattenverengung und der damit verbundenen Angst zu liegen, falsch verstanden zu werden. Man will die Impfgegner offenbar nicht mit historischen Verweisen ermuntern. Dabei war die Lage damals eine ganz andere und auch die Randbedingungen waren deutlich verschieden von denen heute. Aber so wie es aussieht, will man gar nicht erst Gefahr laufen, missverstanden zu werden.

Dieses Schweigen aber ist ein Problem: Wir nutzen Geschichte immer nur als großes Mahnmal oder zur Unterstützung unserer eigenen Meistererzählungen. Wir haben vergessen, vom Scheitern zu berichten. Dadurch aber schaffen wir eine Eindeutigkeit, die es in der Geschichte nicht gibt, schon gar nicht im Längsschnitt. Wahrscheinlich verzichten wir auch deshalb im Querschnitt, das heißt im Hier und Heute, auf die Aufzählung der Misserfolge. Weil wir glauben, mit der Betonung der (vermeintlichen!) Niederlagen der eigenen Sache einen Bärendienst zu erweisen. Ein Trugschluss, wie mir scheint.

Es wäre viel besser, die Sache würde genau andersherum laufen. Wenn wir lernen wollen, mit und in den Differenzen der modernen Welt zu leben und auf möglichst breiter Basis Akzeptanz für Maßnahmen zu schaffen, müssen wir die Misserfolge der Geschichte miterzählen. Und vor allem: die Geschichte ihres Entstehens.

Dann sieht man nämlich, dass es oft gar nicht die „Fakten“ sind, an denen eine Sache wie ein nationales Impfprogramm scheitert. Vielmehr spielen das bewusste und unbewusste Uminterpretieren der Tatsachen eine wichtige Rolle, ebenso wie handfeste politische Interessen, wirtschaftliche Absicherungswünsche und Rechtsgepflogenheiten.

Auch der Zufall ist mit von der Partie und wirkt auf die Entwicklung eines Ereignisses ein, auch wenn er als Erklärungsgröße seit dem 19. Jahrhundert immer mehr an Kraft eingebüßt hat und inzwischen weitgehend aus den Deutungen von Geschichte und Gegenwart verschwunden ist. Auch ihn gilt es zurückzugewinnen. Nicht gegen, sondern für die eigenen Sicherheiten!

Im Grunde realisiert sich hier und heute, was der große Zufallsforscher unter den Historikern, Reinhart Koselleck, bereits Ende der 1960er Jahre als Möglichkeit aufgeschrieben hatte, nämlich „daß gerade das Ausräumen jeder Zufälligkeit zu hohe Konsistenzansprüche stellt, und zwar gerade deshalb, weil im Horizont geschichtlicher Einmaligkeit durch die Beseitigung jedes Zufalls die Zufälligkeit verabsolutiert wird. Was im Raum der vorhistorischen Geschichtsauffassung von Fortuna geleistet wurde, das wird in der Moderne zur Ideologie, die in dem Maße zu immer neuen Manipulationen nötigt, als sie im Gewande unverrückbarer Gesetzlichkeit auftritt.“

Das klingt nach abstrakter Geschichtsphilosophie, entpuppt sich angesichts von Corona aber als konkrete Problemlage und Handlungsanweisung in einem. Beispiel gefällig? Na schön: Vor kurzem wurde der renommierte amerikanische Mediziner und Gesundheitsökonom Harvey Fineberg, der 1978 den Abschlussbericht über das National Influenza Immunization Program angefertigt hatte, von der kanadischen CBC über die COVID-19 Pandemie und die anstehenden Impfungen befragt.

Fineberg berichtete in diesem Zusammenhang unter anderem über organisatorische und logistische Probleme, die mit großangelegten Impfprogrammen einhergehen. Danach gefragt, was das Wichtigste sei, um einem geplanten Impfvorhaben zum Erfolg zu verhelfen, verwies Fineberg auf die Rolle des Zufalls – und das nicht zum ersten Mal.

Fineberg erklärte, der entscheidende Schlüssel zum Erfolg liege darin, den Leuten klarzumachen, dass medizinische Vorfälle und andere körperliche Reaktionen, die nach einer Impfung auftreten, nicht automatisch mit ihr in Verbindung stehen müssen, wohl wissend, dass sie oft genug genau in diesem Sinne (fehl-)interpretiert werden.

Fineberg hat seine Erkenntnis aus seiner Beschäftigung mit dem Impfprogramm 1976 gewonnen. Er nutzt für seine Erklärung den Begriff der „coincident events“, wobei „coincident“ hier sowohl zufällig als auch zeitgleich bedeutet. Fineberg drückt es so aus: „Es wird definitiv Dinge geben, die zufällig zeitgleich auftreten. Die Öffentlichkeit auf diese erwartbaren Gleichzeitigkeiten, auf diese Zufälle vorzubereiten, einfach weil jeden Tag etwas passiert, das ist das Entscheidende.“

Es ist das explizite Gegenprogramm zu den Implikationen der Verschwörungstheoretiker.

Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.

Das „Tagebuch eines Hilflosen“ als Buch ab Frühjahr im Verlag Matthes & Seitz.

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