Der letzte Tag des Jahres 2020 unserer Zeitrechnung ist da. Und man kann all diese weinerlichen Kommentare schon nicht mehr lesen, all diese müden Herren Kommentatoren, die uns die Ohren volljammern darüber, was alles 2020 nicht möglich war, abgesagt wurde, schrecklich war. Jeder Kommentar eine einzige Beleidigung für ein Jahr, das normaler hätte gar nicht sein können.

Wobei: So ein Jahr lässt sich ja nicht beleidigen. Es ist ja nichts als eine Messgröße dafür, in welcher Zeit es unser Planet Erde schafft, die Sonne einmal zu umrunden. Und das werden auch heute um Mitternacht wieder „genau 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 46 Sekunden“ gewesen sein. Keine mehr, keine weniger.

Nichts hat unsere Erde aus der Bahn geworfen. Noch für Millionen von Jahren wird sie genau in der Zone um die Sonne kreisen, die die Astronomen Habitable Zone nennen, jener Bereich also, in dem die Sonnenenergie stark genug ist, das Leben auf einem Planeten zu ermöglichen, und die Entfernung groß genug, dass dieses Leben nicht verbrannt wird.

Und auch in diesem Jahr hat die Sonne wieder genau jene Menge an Energie abgestrahlt, von der ein winziger Teil genügt, den Kreislauf des Lebens auf der Erde in Gang zu halten. So wie es z. B. die Astrokramkiste so hübsch anschaulich erklärt: „Von der Sonne trifft jährlich eine Strahlungsenergie von 1.500 x 1018 Wh auf die äußere Erdatmosphäre. Davon werden 30 % direkt reflektiert und 11 % durch die Erwärmung der Landmassen absorbiert. Die verbleibende Energie von 59 % (885 x 1018 Wh pro Jahr) entspricht etwa der 37.000-fachen Weltstromerzeugung (laut Wikipedia beträgt die Weltstromerzeugung derzeit jährlich 23,8 x 1015 Wh).“

Auch diese Bilanz wird heute um Mitternacht stimmen. Am Jahr also liegt es gar nicht, dass derzeit auf unserem Planeten so viel schiefläuft. Das liegt eher an uns, die wir diese einfachen Tatsachen ja kennen, aber mit dem Planeten so umgehen, als wäre das eine Wundermaschine, die alles aushält – Tritte, Schläge, Verbrennungen, Verätzungen, Müll, Brand, Staub.

Klar: Hält sie auch aus. Und das wäre auch kein Problem, wenn die Erde einfach nur ein simpler Drecks- und Staubplanet wäre, auf dem nichts wächst und lebt. Also ein Müllplanet. So ein lebloses Ding, wie es das zu Milliarden im Weltall gibt.

Die meisten Menschen, die da derzeit ihre Jammertiraden loslassen, haben bis heute nicht begriffen, was für eine seltene Ausnahme die Erde eigentlich ist.

Harald Lesch thematisiert das ja öfter. Hier ist mal einer seiner jüngeren Erklär-Clips dazu.

Unser Sonnensystem: Einzigartig oder kosmischer Durchschnitt?

Klar, man kann nach so einem Jahr richtig wütend werden. Aber nicht auf das Jahr und schon gar nicht auf die Erde. Wir haben wieder ein riesiges Geschenk bekommen. Das kriegen die meisten gar nicht mehr mit, was das für ein Geschenk ist, auf so einem kleinen blauen Fünkchen in einem riesigen sonst völlig leblosen Stück Kosmos geboren zu werden.

Sagen Sie ruhig Ihrer Mutter immer wieder Danke dafür! Es ist das allergrößte Geschenk, das Menschen machen können: Anderen Menschlein ein Leben auf diesem einmaligen Planeten zu schenken.

Und jedes einzelne Jahr, dass man mit wachen Sinnen erleben darf, ist ein Geschenk.

Und wenn man dann auch noch ein bisschen lernt, wie das Leben auf der Erde eigentlich entstanden ist und wie es funktioniert, bekommt man auch ein Gespür dafür, was für eine Verantwortung eine Spezies auf sich nimmt, die in diesem überschäumenden Leben zu Bewusstsein erwacht und beginnt, den Planeten für sich umzugestalten.

Und wir haben ihn umgestaltet. Wir haben tief eingegriffen in die Prozesse, die auf diesem Planeten ein lebenswertes Klima erzeugt haben, eine frappierende Artenvielfalt und vor allem Bedingungen, die einer hochentwickelten Affenart vor drei Millionen Jahren einen Entwicklungsweg ermöglicht haben, der irgendwann in diesem Marathon zum Erwachen des Bewusstsein führte.

Auf einmal gab es ein Lebewesen, das fähig war, den Kosmos zu sehen, wirklich zu sehen, seine Gesetze zu begreifen und seine unerhörte Größe. Und irgendwann auch, wie winzig klein unser Planet eigentlich ist im Vergleich zu anderen Himmelskörpern da draußen. Aber irgendwie hängen noch viele Menschen in den alten geozentrischen Weltvorstellungen fest und meinen, ausgerechnet wir seien der Nabel der Welt.

Universum Größenvergleich 3D

Sind wir aber nicht. Wir sind nur ausgesprochene Glückspilze, Kinder von ausgesprochenen Glückspilzen, die in der Regel auch ihre 60, 70, 80 faszinierenden Sonnenumkreisungen auf diesem Planeten erleben durften, dessen Klima so haarfein abgestimmt zu sein scheint auf die Ermöglichung unserer menschlichen Zivilisation, dass wir diese haarfeine Abstimmung einfach als gegeben sehen – und trotzdem seit 150 Jahren am Thermostat drehen, weil wir nie genug bekommen können von allem Möglichen.

Was schäbig ist, ist dieses Denken, das es tatsächlich fertigbringt, mitten im Verprassen der Reichtümer unserer Welt zu denken: „Nach mir die Sintflut!“

Als wäre dieses einmalige Geschenk einer Erde voller Leben einfach nichts wert. Als könnte man es einfach wegschmeißen wie einen kaputten Fernseher oder die abgelatschten Möbel, die die faulsten unserer Mitbewohner nachts einfach auf die Straße stellen.

Als könnte man diesen kostbaren Ort, an dem Leben entstehen konnte und ein filigran austariertes Klima, das sogar menschliche Kultur ermöglichte, einfach verlottern lassen, verkommen lassen wie eine miese Absteige. Und dann die Sachen packen und dann?

Dann wird kein Retter kommen, kein Gott, der seine ach so kläglich versagenden Geschöpfe wieder einsammelt und tröstet. Nichts davon. Dann haben bestenfalls unsere Kinder und Enkel den ganzen Dreck einer heruntergewirtschafteten, verarmten, in eine Müllhalde verwandelten Welt. Ich male das hier nicht weiter aus.

Nicht das Jahr war schlecht, sondern wie wir damit umgegangen sind. Die Corona-Pandemie hat unsre ganze Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit offengelegt. Denn den meisten von uns ist das Wohlergehen der Nachbarn und Mitmenschen mittlerweile auch egal. Das, was man so Mitgefühl nennt, weil sich jemand hineinfühlen kann in andere und zumindest ahnt, dass wir eigentlich im Menschsein alle gleich sind. Gleich verletzlich. Und gleich verantwortlich für das, was aus uns und unserer Welt wird.

Das erste Lebewesen, das die Fähigkeit entwickelt hat, den Kosmos bewusst wahrzunehmen – dreht sich um und pfeift drauf.

Sieht ja keiner.

Gibt ja keinen, der ihm ins Gewissen redet, bevor er es gründlich verkackt.

Ihm Schippe und Schaufel in die Hand drückt und sagt: Jetzt räume das bitte alles wieder auf. Du willst hier doch noch ein paar Millionen Jahre weiterleben, oder nicht?

„Aber ich will doch rasend sein“, sagt dieses Geschöpflein mit dem großen Gehirn, mit dem es meistens so überhaupt nichts anzufangen weiß, sogar regelrecht geplagt ist von diesem ständigen Fragen und Grübeln da oben drin. Lieber säuft es sich die Birne weg, als tatsächlich einmal daran zu denken, dass er jetzt alle Verantwortung hat für das, was auf diesem kleinen Planeten passiert. Für sich selbst übrigens auch.

Für dieses Geschenk, auf dem er herumtrampelt, als wäre es eine Zumutung. Und nicht die größte aller Gaben: Jeden Tag wahrzunehmen, was für ein unglaublicher Glücksfall es ist, dass in einem abgelegenen kleinen Sonnensystem am Rand der Milchstraße etwas entstand, was nach dem Fermi-Paradoxon sehr selten und sehr unwahrscheinlich ist und vielleicht sogar nur möglich, weil wir es im Kosmos mit riesigen Zahlen zu tun haben.

Egal, ob es um die schieren Entfernungen geht oder die extremen Zufälle, die eintreten müssen, dass genau so ein Planet mit der richtigen chemischen Ausstattung in der richtigen Entfernung von einem Stern entstand und irgendwann der Prozess der Lebensbildung begann.

Wo sind die Aliens? Das Fermi-Paradoxon | Harald Lesch

Es ist und bleibt ein Geschenk. Und vielleicht sollte man in der letzten Sekunde des Jahres 2020 kurz einmal daran denken und sich für die nächste Sonnenumrundung einmal etwas anderes vornehmen als diesen ganzen egoistischen Optimierungskram. Vielleicht nutzt man das Jahr ja vielleicht einmal dazu, sein Denken über die Faszination der Welt zu ändern und nicht immerzu zu flüchten in irgendwelche närrischen Ablenkungen, die manche Leute für ihr absolutes Recht halten.

Wir sollten anfangen, unser größtes Geschenk zu lieben und jenen sensiblen Aggregatzustand, der uns überhaupt möglich macht, Mensch zu sein. Und menschlich, was schon eine kleine, aber sehr wichtige Nuance ist.

Die Serie „Nachdenken über …“

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