Derzeit werden sie mal wieder zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu diskutiert, die Regelungen im SGB 2 - gemeinhin als Hartz IV bekannt. Die ersten Ideen wurden vor einigen Tagen bekannt, meist handelt es sich bei den als "Vereinfachungen" geplanten Neuregelungen um Verschlechterungsvorschläge für die Betroffenen. Am morgigen 2. Oktober wollen diese sich zum Protest von 8 bis 12 Uhr vor dem Jobcenter Leipzig treffen. Dass es weitaus mehr Menschen sind, welche von den Gesetzen im SGB 2 und 12 tangiert werden und warum die Vorschläge nicht mit den Betroffenenverbänden debattiert werden, dazu Kathrin Rösler von der Erwerbsloseninitiative Leipzig (ELO) im ersten Teil des zweiteiligen L-IZ - Interviews.

Wenn bei den SGB 2 – Gesetzen neue Regelungen debattiert werden, sind selten die Erwerbsloseninitiativen eingebunden. Wie ist es bei den derzeitigen Planungen?

Die Bund-Länderkommission, die mit den sogenannten Rechtsvereinfachungen betraut ist, besteht aus Bund, Ländern, Kommunen, der Bundesanstalt für Arbeit und dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge. Der Deutsche Verein (ein Lobbyverband der Regierung um schwierige Gesetze durchzusetzen) ist trotz seines Namens so fürsorglich nicht, ist er doch mit seinen “Empfehlungen” maßgeblich an immer neuen Kürzungen und Streichungen beteiligt bei den Mehrbedarfen bei krankheitsbedingter Ernährung.

Das betrifft nicht nur den Bereich des SGB 2, die Grundsicherung für Arbeitsuchende, sondern auch das SGB 12, die Grundsicherung für Rentner und Erwerbsunfähige. Die Vorschläge für die Rechtsvereinfachungen kamen vor allem aus den Jobcentern und Kommunen.

Warum werden eigentlich die Vertreter der Betroffenen außen vor gelassen – ist Hartz IV ein reines Verwaltungsthema?

Es geht vor allem nicht um Vereinfachungen für die Leistungsbezieher, sondern um Vereinfachungen für den momentan chaotischen Verwaltungsablauf. Natürlich immer zu Lasten der Betroffenen. Die sogenannten Vereinfachungen dienen aber weiterhin nicht der Vermittlung in Arbeit, sondern ausschließlich dem Verwaltungsapparat. Aktuell werden in der Presse Umschichtungen von den Vermittlungsbudgets in die allgemeinen Verwaltungskosten der Jobcenter selbst vermeldet. Wenn die Vertreter der Betroffenen gefragt worden wären, wären wirkliche Verbesserungen und vor allem Erleichterungen für die Betroffenen herausgekommen.

Welche genau?

Die Sanktionen wären ersatzlos gestrichen worden. Eingliederungsleistungen wären verbindlich festgeschrieben worden, ebenso wie ein Rechtsanspruch auf Vermittlungs- und Bildungsgutschein. Diese Leistungen sind bisher reine Kann-Leistungen, es besteht kein Rechtsanspruch darauf.

Weiterhin hätten die Erwerbslosenvertretungen eingefordert, dass Betroffene von einem Betteln auf Leistungen hin zu einem unabdingbaren Rechtsanspruch auf zielführende Vermittlungsleistungen geführt werden. Somit würde den vielfach vorhanden Eigenbemühungen auch wieder Rechnung getragen. Auf jeden Fall muss die Willkür in den Jobcentern beendet werden.
Wenn Sie selbst Vorschläge machen könnten zum SGB 2 – welche wären das?

Das SGB 2 abschaffen und durch eine sanktionsfreie Grundsicherung ersetzen. Damit würde man auch dem Fakt Rechnung tragen, dass nicht für alle Menschen ausreichend bezahlte Arbeit vorhanden ist. Die Jobcenter zwingen die Menschen in den Niedriglohnsektor, der sie oft genug nicht aus der Bedürftigkeit entlässt. Dies ist eine direkte Subventionierung der Wirtschaft aus Sozialgeldern. Fleißige Arbeitnehmer werden so zu Leistunsempfängern.

Wenn man die Situation in Leipzig ins Auge fasst – wie viele Menschen dürften diese Gesetze und ihre Neuregelungen direkt oder indirekt tangieren?

Direkt betroffen durch Leistungsbezug sind schätzungsweise 80.000 Menschen, darunter viele Kinder. Konkrete Zahlen sind schwer zu finden. Wenn man nun die Beschäftigten im Jobcenter hinzuzählt, die vielen Beschäftigten bei den Maßnahmeträgern von Ein-Euro-Jobs und Weiterbildung, Sozialarbeiter in Schulen, Kitas, Vereinen, in die die soziale Betreuung ausgelagert wurde, dann sind das schon gut 100.000 Menschen.

Große Vermieter haben auch Sozialbetreuer um die Folgen von Sanktionen möglichst abzufedern und zu vermitteln, die Stadtwerke haben ebenfalls einen höheren personellen Aufwand durch unbezahlte Rechnungen und Sperren aufgrund von Sanktionen. Hinzu kommen Richter und Justizangestellte im Sozialgericht. Arbeitgeber müssen Verdienstbescheinigungen für ihre aufstockenden Mitarbeiter ausstellen.

Nimmt man nun noch medizinisches Personal hinzu aufgrund von psychischen und oft psychosomatischen Erkrankungen bei längerem Leistungsbezug, dann dürften insgesamt ca 125.000 Menschen in Leipzig von ALG 2 betroffen sein.
Warum sollten sich Ihrer Meinung nach mehr Menschen für das Thema SGB 2 interessieren?

Weil durch Hartz IV nichts positiv verändert wurde, im Gegenteil. Immer weniger müssen immer mehr arbeiten zu schlechten Löhnen, die unbezahlten Überstunden sind auf Rekordniveau, die psychischen Erkrankungen in der Arbeitswelt nehmen aufgrund von Existenzangst und Leistungsdruck rapide zu. Die Gesellschaft entwickelt sich immer mehr zu einer Angstgesellschaft. 60 % des gesamten erwirtschafteten Vermögens eines Jahres landet bei den oberen 10%, die dafür nichts Produktives leisten müssen.

Die Entsolidarisierung mit den von Armut betroffenen Menschen hat schon gefährliche Züge angenommen und wirkt sich auf das Demokratieverständnis der Bürger aus, was man direkt an den Wahlen zB. in Sachsen und Thüringen ablesen kann. Eine soziale Partei als Arbeiterpartei erreicht noch 12,5% in Sachsen, wie eine Splitterpartei. Es ist keine Volkspartei mehr. Die von Armut Betroffenen fühlen sich längst nicht mehr in der Demokratie zu Hause, sondern nur noch verwaltet.

Gibt es Ihrer Erkenntnis nach “Sanktionsquoten” an Jobcentern? Oder anders gefragt – wie wirken sich sogenannte Zielvorgaben der Kommunen in der Realität aus?

In der Sendung “plusminus” vom 28.03.2014 wurden Dokumente aus bereits 2011 bekannt gemacht, die Sanktionsquoten bestätigen. www.elo-leipzig.de/?p=356

Es steht für mich außer Frage, dass es diese Quoten gibt. Die Politik will doch Erfolgszahlen sehen, die Kommunen müssen sparen. Wenn sich eine Stadt wie Leipzig das Ziel setzt die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften zu verringern, ist der schnellste Erfolg mittels Sanktionen mit vollständigem Leistungsentzug erreichbar, weil diese Bedarfsgemeinschaften nicht gezählt werden, und mit der deutlichen Erschwerung der Antragsstellung. Antragsteller sollen möglichst abgeschreckt werden. Bestes Beispiel ist allein schon die Architektur des Leipziger Jobcenter, die fatal an ein Gefängnis erinnert. Bedrohlich schon der Wachschutz gleich am Eingang.

Hohe Theken, neuerdings räumliche Trennung zwischen ALG 1 und ALG 2, abweisende Behandlung durch Sachbearbeiter am Empfangsbereich. Anonymisierung von Verwaltungshandeln, permanente unterschwellige Unterstellung von Leistungsbetrug, Kriminalisierung kleinster Vergehen, die oft auf mangelnder Beratung und Aufklärung beruhen, vorsätzliche Ignorierung der Rechtsprechung der Sozialgerichte zum Thema Kosten der Unterkunft. All dies soll Einsparungen generierungen bzw Kosten erst gar nicht entstehen lassen.

Zum zweiten Teil des Interviews vom 2. Oktober 2013 auf L-IZ.de

AufRecht-Bestehen – Protest vor dem Jobcenter Leipzig (2): Die Neuregelungen im SGB 2 – Ein Interview mit der ELO

Zur Erwerbsloseninitiative Leipzig
www.elo-leipzig.de

Die Demonstration fand am 2. Oktober 2014 von 8 bis 12 Uhr vor dem Jobcenter Leipzig, Georg-Schumann-Straße 150 statt.

Info: Die Demonstration ist der Höhepunkt der bundesweiten Aktionswoche, die unter anderen von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), der Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen (BAG PLESA), dem Erwerbslosenforum Deutschland, dem Netzwerk und der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), der Initiative Soziales Europa, Tacheles e.V. Wuppertal und den ver.di-Erwerbslosen getragen wird. Die Erwerbsloseninitiative Leipzig e. V., die Autonome Erwerbsloseninitiative und die Erwerbslosenberatung Zweieck haben sich angeschlossen.
Der Aufruf der ELO als PDF zum download.

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