Am Dienstag, 20. März, schockierten Oberbürgermeister aus Nordrhein-Westfalen die Republik. Öffentlich kündigten sie an, für eine baldige Abschaffung des Solidarpakts II kämpfen zu wollen und nicht bis 2019 warten zu wollen, dem Jahr, in dem der Solidarpakt ausläuft. "Der Solidarpakt Ost ist ein perverses System, das keinerlei inhaltliche Rechtfertigung mehr hat", sagte Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) der Süddeutschen Zeitung, die die Geschichte lancierte.

Die Oberbürgermeister der schuldengeplagten Städte NRWs wollen den bevorstehenden Landeswahlkampf nutzen, für ihren Vorstoß zu kämpfen und auf die Schuldenmisere der Städte im Ruhrpott aufmerksam zu machen.

Im Solidarpakt II hatten Bund und Länder vereinbart, dass von 2005 bis 2019 insgesamt 156 Milliarden Euro in den Osten fließen sollen. Komplett in die neuen Bundesländer fließen davon übrigens nur 105,3 Milliarden Euro, rund 28 Milliarden davon nach Sachsen. Sie sollten eigentlich zum Ausbau der Infrastruktur verwendet werden. 2005 hatten Bund und Länder durchaus noch einen Rückstand festgestellt. 2005 erfreute freilich auch der Finanzwissenschaftler Helmut Seitz von der TU Dresden die Republik mit der Feststellung, 50 Prozent der Mittel seien falsch verwendet worden. Nur Sachsen habe die Mittel richtig eingesetzt.

Ob das noch gilt, ist eine andere Frage. Aber die Fördermittelproblematik innerhalb Sachsens deutet darauf hin, dass die Gestaltungsspielräume der jeweiligen Landesregierungen erstaunlich groß sind.

Freilich wundert sich der Sachse auch über den Vorstoß der NRW-Städte: Seit wann zahlen die eigentlich die Solidarpakt-Mittel?

Grundlage dafür ist ein 2010 verabschiedetes “Einheitslastenabrechnungsgesetz”, mit dem das Land Nordrhein-Westfalen die Kommunen an seinem Beitrag zum Solidarpakt II beteiligt.

Dabei sind die Rechnungen, die die “Süddeutsche” aufmacht, durchaus abenteuerlich: “Die Stadt Essen ist mit 2,1 Milliarden Euro verschuldet, ein Drittel davon wurde durch die Beiträge für den Solidarpakt verursacht. Duisburg musste in den vergangenen Jahren Kredite im Wert von einer halben Milliarde Euro aufnehmen, um die Finanzhilfen für den Osten zu bezahlen. In Oberhausen, der am höchsten verschuldeten Stadt Deutschlands, sind es 270 Millionen Euro.”

Ein Blick in den 1,9-Milliarden-Euro-Haushalt der Stadt Essen zeigt, dass die Zuwendungen im Rahmen des “Einheitslastenabrechnungsgesetz” nur 24 Millionen Euro jährlich ausmachen. Ab 2013 steigen sie freilich auf über 27 Millionen Euro, obwohl die Summen im “Solidarpakt II” bis 2019 jährlich abschmelzen. Der Essener Haushalt ist auch nur bedingt mit dem 1,3-Milliarden-Euro-Haushalt der Stadt Leipzig vergleichbar. Denn Essen finanziert seine städtischen Betriebe und Gesellschaften direkt über den Stadthaushalt, während Leipzig dieses Thema in die LVV ausgelagert hat.

Viel erstaunlicher ist, dass es der 570.000-Einwohner-Stadt Essen mit einem Bruttoinlandsprodukt von 24,8 Milliarden Euro (2009) nicht gelingt, den Stadthaushalt zu finanzieren. Nur 730 Millionen Euro des Haushalts werden aus Steuereinnahmen finanziert, 670 Millionen müssen aus “Zuwendungen und Umlagen” beglichen werden. Dazu kommt 2012 wohl noch eine Schuldenaufnahme von 264 Millionen Euro. Die Deckungslücke kann nach Planung der Stadt Essen 2013 nur auf 129 Millionen Euro und in den Folgejahren auf rund 80 Millionen abgesenkt werden. Da sind 27 Millionen weniger schon ein wichtiger Batzen Geld.Bis auf die Schuldenproblematik ähnelt der Essener Haushalt dem Leipziger. Das Bruttoinlandsprodukt liegt mit 13,6 Milliarden Euro (2009) in Leipzig zwar nur halb so hoch wie in Essen, aber auch von dieser Wirtschaftsleistung fließt nur ein geringer Prozentsatz als Steuereinnahme in die Stadtkasse. 397 Millionen Euro waren es 2011. Der Rest musste mit “Zuweisungen” von Bund und Land ausgeglichen werden. Die deutschen Städte hängen am Gnadent(r)opf von Bund und Land. Jede Gesetzesänderung dort, jeder Taschenspielertrick mit neuen Steuersenkungen führen dazu, dass der Geldstrom in die Kommunen dünner wird.

Das ganze Finanzierungssystem der Bundesrepublik ist mittlerweile so kompliziert geworden, dass kaum noch jemand wirklich sagen kann, welches Geld tatsächlich wohin fließt. Und wer es am Ende tatsächlich wofür ausgibt. Auch die gewaltigen Reservefonds, die der sächsische Finanzminister mittlerweile angelegt hat, sind diesen Geldkreisläufen entzogen.

Dass die meisten Infrastrukturprojekte (so auch der Flughafen Leipzig / Halle) über die “Sonderbedarfszuweisungen” aus dem Solidarpakt abgerechnet wurden, verschafft Sachsen die von Finanzminister Georg Unland propagierte Zahl von 127 Prozent “SoBEZ-Verwendungsquote”. Er hat einfach die vom Land draufgepackten Investitionsmittel mit hinzugerechnet. Würde das benachbarte Sachsen-Anhalt genauso rechnen, käme es auf ähnliche Prozentzahlen. 1,26 Milliarden Euro SoBEZ-Zuweisungen standen 2011 zum Beispiel 1,6 Milliarden Euro Infrastrukturinvestitionen gegenüber.

Manches am Ruhmesrummel in Deutschland ist nur ein Spiel mit Zahlen, ohne dass für die Bürger überhaupt noch nachvollziehbar ist, in welche Kanäle das Geld fließt, was Steuererhöhungen oder Steuersenkungen tatsächlich bringen. Dass am Ende die Kommunen in West wie Ost gleichermaßen unter diesen undurchschaubaren Abhängigkeiten von Gnade und Anstand leiden, gehört zum Dilemma dieses Kuhhandels.

Und da überrascht auch nicht, das jetzt die Vorsitzenden der SPD-Fraktionen aller ostdeutschen Bundesländer die Forderung nordrhein-westfälischer Oberbürgermeister nach Abschaffung des Solidarpaktes gemeinsam zurückweisen.

“Ostdeutschland benötigt solidarische Unterstützung”, erklären Katrin Budde (Sachsen-Anhalt), Martin Dulig (Sachsen), Ralf Holzschuher (Brandenburg), Uwe Höhn (Thüringen), Norbert Nieszery (Mecklenburg-Vorpommern) und Raed Saleh (Berlin).

“Die Forderung einiger westdeutscher Oberbürgermeister, den Solidarpakt vorzeitig aufzukündigen, weisen wir zurück. Ostdeutschland ist auch in den nächsten Jahren auf die solidarische Unterstützung Westdeutschlands angewiesen, um am Ende des Jahrzehntes auf eigenen Beinen stehen zu können. Solange die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands nur bei 70 bis 80 Prozent des Westniveaus liegt, darf die zugesagte Unterstützung nicht in Frage gestellt werden. Das hat auch etwas mit Verlässlichkeit zu tun”, schreiben sie in ihrer gemeinsamen Erklärung.

Und weiter: “Wie in Ostdeutschland gibt es auch in westdeutschen Bundesländern Kommunen, die finanziell in großen Schwierigkeiten sind. Wir sehen hier vor allem die Bundesregierung in der Pflicht, die Kommunen nicht immer weiter zu belasten. Viele Kommunen haben durch die Sparmaßnahmen des Bundes immer stärkere Einschnitte zu verkraften. Soziallasten werden auf sie abgewälzt. Schwarz-Gelb darf unsere Kommunen nicht länger als Sparschwein der Nation betrachten. Diesem Trend müssen wir uns alle gemeinsam – in Ost und West – entgegen stellen.”

Der Beitrag in der “SZ”: www.sueddeutsche.de

Der Solidarpakt II bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Solidarpakt

Wie Sachsens Finanzminister die SoBeZ-Quote errechnet: www.finanzen.sachsen.de

Haushaltsdaten von Essen:

www.haushaltssteuerung.de/steuer-daten-stadt-essen.html

http://media.essen.de

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