Die Zahl ist erschreckend: Über 1 Million Kunden der deutschen Jobcenter wurden 2012 sanktioniert. Die Zahl ist so heftig, dass die Bundesagentur für Arbeit gleich die Warnung vorweg schickte: "Vorsicht bei der Interpretation der Zahlen". Die Bundesagentur für Arbeit (BA) veröffentlichte am Mittwoch, 10. April, die aktuelle Statistik zu Sanktionen in der Grundsicherung für das Jahr 2012.

BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt warnte gleich vor einer vorschnellen Interpretation der Zahlen: “Die absolute Zahl mag hoch erscheinen, gemessen an der Gesamtzahl der Leistungsberechtigten haben die Jobcenter nur wenige Menschen sanktioniert.” Womit er recht hat, denn Sanktionen sind Ermessensentscheidungen. Und es gibt Jobcenter, wo fleißiger sanktioniert wird als anderswo. “Im Dezember 2012 mussten die Jobcenter 86.100 und im gesamten Jahr 2012 1.024.600 Sanktionen gegenüber erwerbsfähigen Leistungsberechtigten neu aussprechen”, behauptet die Arbeitsagentur. Das “musste” darf man durchaus in Gänsefüßchen schreiben.

Das sind 98.900 (11 Prozent) mehr als 2011. Der Anstieg erkläre sich allein durch mehr Sanktionen aufgrund von Meldeversäumnissen, so die Bundesagentur. Diese hätten im Vergleich zum Vorjahr um 107.500 auf 705.000 zugenommen. Das entspräche einem Anteil an allen Sanktionen von rund 70 Prozent. 13 Prozent der Sanktionen wurden wegen Ablehnung einer Beschäftigung, Ausbildung oder Bildungsmaßnahme ausgesprochen.

Im Dezember 2012 waren 148.500 und im Jahresdurchschnitt 2012 insgesamt 150.300 erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit mindestens einer Sanktion belegt, das waren 3,4 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Zurückzuführen sei der Anstieg der Sanktionen auf die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt und eine intensivere Betreuung in den Jobcentern. “Wenn wir den Menschen mehr Angebote machen können, nehmen auch die Meldeversäumnisse zu”, erklärt Heinrich Alt.

Was ja im Umkehrschluss auch bedeutet: Man hat mehr freie Kapazitäten zum Sanktionieren, wenn die Gruppe der Betroffenen schmilzt. Es ist schon erstaunlich, wie dieses Denken aus feudalen Zeiten mittlerweile akzeptierter Sprachgebrauch geworden ist. Die BA setze mit Sanktionen auch das Prinzip “Fördern und Fordern” um, teilt die allmächtige Agentur mit. Dann müssten aber die Fördermaßnahmen im gleichen Ausmaß zunehmen. Tun sie aber nicht. Das “Prinzip” – wenn es denn je eines war – ist völlig aus dem Lot.

Heinrich Alt: “Hartz IV Empfänger wünschen sich eine möglichst dauerhafte und ordentlich bezahlte Beschäftigung. Die geringe Sanktionsquote zeigt, dass die Spielregeln von der deutlichen Mehrheit der Kunden akzeptiert werden und die Jobcenter verantwortungsbewusst mit dem Instrumentarium umgehen. Sanktionen sind immer das letzte Mittel. Wir wollen keine Drohkulisse aufbauen, sondern über Vertrauen und Argumentation unsere Kunden erreichen.”

Ob man über Sanktionen “Vertrauen” erwirbt, ist eine gute Frage.

“Vergessen wir nicht, dass die Grundsicherung von Steuerzahlern finanziert wird, also auch von der Kassiererin, dem Dachdecker oder der Altenpflegerin”, versuchte Heinrich Alt den Spagat, der möglicherweise im Hause BA die Lust am Sanktionieren moralisch rechtfertigen soll. “Der Gesetzgeber muss Leitplanken definieren um das Sozialsystem so zu gestalten, dass es von der Allgemeinheit als gerecht empfunden wird.”

Ist das nur zynisch oder schon hämisch? – Jeder Zugriff auf die Grundsicherung wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt. Der Verweis auf den “Gesetzgeber” ist dafür keine Entschuldigung. Ein Sanktionssystem kann kein funktionierendes Vermittlungs- und Qualifizierungsprogramm ersetzen.

Die Zahlen für Sachsen: Hier wurde 2012 insgesamt 70.831 Mal sanktioniert, 49.769 Mal wegen reiner Meldeverstöße bei dem, was in manchen Jobcentern “Arbeitgeber” genannt wird, auch wenn es nur die x-te Runde durch einen kommunalen Beschäftigungsbetrieb und eine völlig marktferne Weiterbildungsmaßnahme ist.

Allein in Leipzig mit seinen 53.441 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten wurde 2012 stolze 18.322 Mal sanktioniert. 3.281 Sanktionen waren im Dezember wirksam. 2.283 Betroffene hatten nur eine Sanktion. Das heißt: einige Hundert hatten mindestens zwei Sanktionen. 1.379 Sanktionen wurden allein noch im Dezember “neu festgestellt”, sie betrafen 1.139 Personen. Das doppelte Sanktionieren betrifft also jeden Monat etliche Klienten. Aber nur 560 Personen davon waren auch als arbeitslos registriert. Erwerbsfähigkeit ist nicht gleich Arbeitslosigkeit.

Solche Zahlen kann man nicht missverstehen, egal wie man sie dreht.

Aber die Bundesarbeitsagentur kann noch zynischer. Sie schickte zu ihrer Mitteilung auch gleich noch den Hinweis auf eine Pressemeldung, die sie betitelt hat: “Die fünf größten Irrtümer über Hartz IV-Empfänger”. In der es gleich zum Anfang heißt: “Irrtum: 37 Prozent der Deutschen glauben: Hartz-IV-Empfänger wollen nicht arbeiten. Fakt ist: Für 75 % der Hartz-IV-Empfänger ist Arbeit das Wichtigste im Leben.”

Wenn das so ist, ist die praktizierte Sanktionspolitik absurd. Aber wahrscheinlich ist es wie bei Kafkas Besuch im Schloss: Die Akteure begreifen nicht einmal mehr, wie schizophren ihr Handeln ist.

Die fünf Irrtümer über Hartz-IV-Empfänger, die die BA ausgemacht hat:
www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Pressemeldungen/2012/Presse-12-042-Irrtuemer.pdf

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