Wie organisiert man eine moderne Stadtgesellschaft? So ein bisschen beschäftigen sich ein paar Gremien damit. Schön separat, damit ja nichts durcheinander kommt. Die Enquete-Kommission des Bundestages "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" zum Beispiel. Die mal über eine andere Art Wachstum nachdachte. Zwei Jahre lang.

Aber wahrscheinlich wird auch dem Abschlussbericht dieser Kommission beschert sein, was auch den anderen Enquete-Kommissionen des Bundestages passierte: die Ergebnisse verrauschen. Die Politik geht – nach einem kurzen Kopfnicken – einfach wieder ihren eingeschliffenen Gang, in dem es nicht um eine modernere Gesellschaft geht, sondern um Pöstchen und Pfründen und taktische Mehrheiten. Regierungen müssen ja niemandem Rechenschaft ablegen. Ein objektives Maß für ihre Arbeit könnte es schon geben, aber die Institution, die das bewerten dürfte, gibt es nicht.

Vier Jahre die wichtigsten Probleme nicht angepackt? – Na und? Wen schert’s?

Naja, die Bürgermeister und Kämmerer in den Kommunen. Denn da landen die Rechnungen am Schluss. Die Gemeinden sind die Auffangbecken für die nicht gelösten Probleme. Nicht nur die sozialen. Die sind nur die ganze letzte Summe, wenn es um Wohnung, Essen, Strom und ein paar neue Klamotten geht.

Aber wenn weder Steuer- noch Bildungs- noch Investitionspolitik bedarfsgerecht austariert sind, was können da die Kommunen noch tun? Ihnen wachsen die ungelösten Aufgaben über den Kopf.

Mehr als die Hälfte der städtischen Aufwendungen im Jahr 2012 waren für den Sozialbereich vorgesehen, vermeldet die Stadt Leipzig zum “Sozialreport 2012”. Und wer irgendwie in jenem seligen Jahr 2002 mal gedacht hatte, die seit Jahrzehnten für Gold gehandelten Rezepte der Hartz-Kommission würden die “Integration” der Arbeitsuchenden verbessern und die Sozialetats der Kommunen, die damals schon ächzten, endlich entlasten, der hat sich gründlich geirrt.

Das hier ist das Ergebnis: “Die Sozialaufwendungen stiegen in den letzten zehn Jahren um 325,8 Mio. Euro.”

Im Jahr 2012 waren im Haushaltsplan für das Sozialbudget (Sozialamt, Amt für Jugend, Familie und Bildung und Gesundheitsamt) 672,4 Millionen Euro vorgesehen. Das sind 53 Prozent der Aufwendungen im Ergebnishaushalt der Stadt Leipzig, betont die Stadt in ihrer Mitteilung zum “Sozialreport”. Das Sozialbudget beinhaltet auch Aufwendungen für den Bildungsbereich – im Jahr 2012 wurden dafür 53,3 Millionen Euro eingeplant.

Denn – man kann’s auch in Teil 3 dieser Serie nachlesen – die Stadt muss überall da einspringen, wo insbesondere das Bundesland Sachsen so tut, als gingen es die Sorgen der Städte nichts an. Vorschulische Bildung? – Macht doch. – Lehrer fehlen? – Ist das unser Bier?

Dass Leipzig dabei durchaus auf dem richtigen Weg ist, wenn es die Bildungsprobleme schon frühzeitig abfangen will, da nämlich, wo sie noch vorsorglich gelöst werden können, findet dabei natürlich auch keine Unterstützung.

Seit Jahren belegen die Ergebnisse der Untersuchungen in Kindertageseinrichtungen und die Schulaufnahmeuntersuchungen, dass im Befundbereich Sprache bei den Vorschulkindern am häufigsten Auffälligkeiten und Entwicklungsdefizite festgestellt werden. Im vergangenen Untersuchungsjahr 2011/12 betraf das 38 Prozent der untersuchten Kinder in Kindertageseinrichtungen. Bei den Schulaufnahmeuntersuchungen war dieser Wert mit 35 Prozent nur unwesentlich geringer. Was oft nur indirekt eine Folge sozialer Benachteiligung ist, primär aber natürlich Folge von zumeist passivem Medienkonsum, mangelnder Bewegung und Interaktion mit anderen Kindern, fehlenden Bildungsangeboten in der Familie. Das betrifft nicht nur sozial schwächere Familien, die aber meist natürlich besonders.

Da kann ein anspruchsvolles Programm in den Kindertagesstätten helfen. Dass dort auch Kinder aus den nicht so gut betuchten Familien unterkommen, dafür sorgt die Stadt mit gesenkten oder teilweise ganz erlassenen Elternbeiträgen. Was natürlich auch ins Sozialbudget fällt. Steigende Geburtenzahlen nehmen eine Stadt wie Leipzig gleich mehrfach in die Pflicht, auch wenn die betroffenen Eltern erst einmal natürlich den eklatanten Mangel an Betreuungsplätzen sehen. Denn das zwingt manche jungen Eltern, zu Haus zu bleiben, obwohl meist beide Elternteile zum Haushaltsgeld beitragen müssen.

Mit 5.490 Geburten gab es 2011 weiterhin konstant hohe und wachsende Geburtenzahlen in Leipzig. Eher etwas fürs Bilderalbum: “Der Anteil von nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern stieg 2011 im Vergleich zum Vorjahr um 16,3 Prozent, der von alleinerziehenden Elternteilen um 3,4 Prozent. Diese Entwicklung geht einher mit einem Rückgang von Ehepaaren mit Kindern um 4,3 Prozent.”Ein Grund zum Fürchten? – Wohl nicht. Die meisten jungen Leute, die sich einen Kinderwunsch erfüllen wollen, heiraten auch. Die Zahl der Ehepaare mit Kindern ist bis 2010 sogar kontinuierlich gestiegen. Deswegen ist noch gar nicht klar, ob da 2011 ein neuer Trend begann. Auf 31.200 Ehepaare mit Kindern kamen tatsächlich nur 12.100 nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern. Viel eher ein existenzielles Problem haben dann die 18.300 Alleinerziehenden.

Das meiste – 39.900 – sind übrigens Ein-Kind-Familien. Ob es künftig auch wieder einen Trend zu zwei und drei Kindern geben wird, ist offen. Und hängt möglicherweise wieder direkt von den verfügbaren Betreuungsplätzen und den Einkommen der Eltern ab. Jede Familiengründung ist ein Risiko. Und viele gehen es auch ein, wenn das Geld nicht wirklich dafür reicht.

Im Jahr 2011 wurden für 8.226 Anträge auf Eltern- und Erziehungsgeld insgesamt 41,2 Millionen Euro Eltern- und Erziehungsgeld ausgezahlt. Für 5.338 Unterhaltsvorschussempfänger gab es im Jahr 2011 insgesamt 9,95 Millionen Euro Unterhaltsvorschuss. Auch das ein Thema, das sogar schon der Landesrechnungshof thematisiert hat. Aber augenscheinlich ist von vielen Vätern der Unterhalt nicht einzutreiben. Von Niedriglohnjobs kann man keinen Unterhalt bezahlen. Wirklich nicht.

Und dann kommen die jungen Leute selbst auf einen Ausbildungsmarkt, auf dem ihre Chancen eher mau sind. Normalerweise hätte ja auf dem Leipziger Ausbildungsmarkt die Schere deutlich auseinander gehen müssen, seit die Jahrgänge der Schulabsolventen immer dünner wurden. Aber: “Zum ersten Mal seit 2007/2008 gab es im Berichtsjahr 2011/2012 wieder mehr Bewerber (2.859) als Berufsausbildungsstellen (2.621).”

Die große Entspannung nach Einbruch der Absolventenzahlen trat also nicht ein. Oder braucht auch dieser Teil des Arbeitsmarktes erst einmal ein paar Jahre, sich umzustellen? – Zumindest eines passiert mit relativ gelindem Tempo: Wie in den Jahren zuvor sank auch im Jahr 2011 die Zahl der arbeitslosen Unter-25-Jährigen auf jahresdurchschnittlich 3.548 (minus 8,2 Prozent). Und jene, die Vermittlungsprobleme haben, bekommen auch Hilfe: “Maßnahmen arbeitsweltbezogener Jugendsozialarbeit wie Beschäftigungsprojekte oder Kompetenzagenturen sollen auch weiterhin Jugendlichen helfen, die Schwelle von der Schule in Ausbildung oder Qualifizierung erfolgreich zu überschreiten und Arbeitslosigkeit zu verhindern.”

Das sind doch Bilder: Schwellen erfolgreich überschreiten! – Das klingt wie ein Königsmarsch. Ist aber Blödsinn. Denn auf der anderen Seite warten auf die Meisten eben doch nur Dienstleistungsjobs mit oft eher beschämender Bezahlung.

Und weil das so ist, ist auch dort das rare Geld der Stadt gefragt: “Wie auch in den vergangenen Jahren ist der mit Abstand kostenintensivste Aufgabenbereich die ‘Grundsicherung nach dem SGB II’. Die geplanten städtischen Aufwendungen lagen in 2012 bei 195,9 Mio. Euro.”

Worte können so verräterisch sein. Die Floskel “in 2012” ist reines Manager-Deutsch, so ein haften gebliebener Sprachrest aus dem so gern gebrauchten Denglisch. In den 195,9 Millionen Euro stecken dann auch wieder ein paar Anteile Bundesmittel. Aber zum Beispiel die hier anfallenden “Kosten der Unterkunft” übernimmt der Bund nur noch zu knapp einem Viertel. Die restlichen Millionenbeträge werden dem Haushalt der Stadt entzogen.

Die Niedriglohnpolitik, die der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig über Jahre gefahren haben, ist in Wirklichkeit eine teure Politik. Sie kostet Steuern, entzieht den Kommunen Kaufkraft – und macht die Betroffenen (wider Willen) zu Bittstellern.Viele tauchen dann auch, weil ihnen der Leipziger Arbeitsmarkt partout keine ordentlichen Jobs bieten konnte, hier auch wieder auf: im Aufgabenfeld “Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege”. Das verzeichnete die zweithöchsten Aufwendungen. Diese stiegen im Haushaltsplan 2012 auf 185,1 Millionen Euro. Damit werden aber nicht nur die erlassenen oder reduzierten Elternbeiträge aufgefangen. Da steckt auch die Summe mit drin, die eigentlich der Bund an die Kommunen zahlt, um die Kinderbetreuung zu qualifizieren, die aber der Freistaat einbehält – 35 Millionen Euro.

So eindeutig positiv ist also die Botschaft, dass der “positive Trend bei der Entwicklung der Geburtenzahlen” in Leipzig anhält, nicht. Vom Menschlichen her schon. Aber von den Finanzspielräumen her – eigentlich einen Hilfeschrei wert.

Im Jahr 2011 wurden in Leipzig 5.490 Kinder geboren, 76 mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Kinder je Frau lag 2011 mit 1,41 Kindern über dem bundesdeutschen Durchschnitt. Gleichfalls ist weiterhin ein deutlicher Zuwachs durch Zuzüge junger Menschen zu verzeichnen. In der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen ist ein noch stärkerer Zuwachs durch Zuzüge als in den Vorjahren festzustellen (Wanderungssaldo 2011: + 5.907). Auch die Zahl der Studierenden aus anderen Bundesländern und aus dem Ausland hat weiter zugenommen, der prozentuale Anteil stieg in den letzten Jahren kontinuierlich an und lag 2011 bei 61,6 Prozent.

Kleine Einschränkung zumindest für 2011 (2012 sah es schon wieder anders aus): 2.484 Kinder und Jugendliche zogen 2011 nach Leipzig, 2.605 Kinder und Jugendliche zogen aus Leipzig weg. Bei Familien mit Kindern unter sechs Jahren überstieg die Zahl der Wegzüge noch stärker als in den Vorjahren die Zahl der Zuzüge (Wanderungssaldo 2011: -309 Kinder).

Von 2010 zu 2011 war natürlich auch wieder ein Anstieg der Besuchsquote in Kindertageseinrichtungen und Tagespflege zu verzeichnen. Bei den Drei- bis Vierjährigen wurde 2011 erstmals ein bemerkenswerter Anteil der Kinder von 4,2 Prozent in Tagespflege betreut. Auch 2012 ist die Besuchsquote im Vergleich zum Vorjahr in Leipzig in allen Altersgruppen angestiegen. Bei den unter dreijährigen Kindern betrug 2012 die Besuchsquote 43,9 Prozent (2011: 42,2 Prozent), bei den Drei- bis Sechsjährigen waren es 94,3 Prozent (2011: 92,5 Prozent). Was dann für das seit 1. August 2013 geltende Recht auf einen Betreuungsplatz eine Rolle spielt. Wie kommt man binnen kurzer Zeit von 43,9 auf 70 Prozent Betreuungsquote bei den Unter-Dreijährigen, wie es Dresden derzeit vormacht?

Natürlich ist auch das nur eine Detailfrage. Denn tatsächlich steht eine andere Frage: Was sind eigentlich Sozialkosten in einer hochmodernen Gesellschaft wie der unseren? Es gibt ein, zwei Parteien, die halten diese Kosten für eine überflüssige Last, derer sich ein Staat entledigen müsse. Andere halten es für eine Art Solidarität mit den Schwachen, Armen und Aussortierten.

Aber trifft nicht eigentlich etwas anderes zu? Dass Sozialkosten zu großen Teilen Zukunftsinvestitionen sind? – Nicht nur in Sachen Vorbeugung sozialer Konflikte, sondern in der Erschließung wichtiger Ressourcen an Kreativität, Leistungsbereitschaft, Engagement, Bildungsbereitschaft, Selbstentfaltung, die in jedem Menschen stecken, egal, welcher Herkunft er ist. Die aber bei vielen Menschen nicht zur Entfaltung kommen, weil ihnen ihre Chancen, sich zu entfalten, früh beschnitten oder ganz genommen werden oder weil all ihre Energie dabei verbraucht wird, gegen die sinnlos errichteten Schwellen und Barrieren anzukämpfen, die ihnen errichtet werden?

Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, in der nicht die Hälfte aller Energie bei diesem Ringen mit Schwellen verbraucht werden?

Muss eine nachhaltig wachsende Gesellschaft nicht genau hier anfangen?

Die Frage lassen wir einfach zum eigenen Nachdenken so stehen. Denn natürlich hat das auch für andere gesellschaftliche Bereiche finanzielle Folgen. Angefangen mit dem Gesundheitsbereich.

Mehr dazu morgen an dieser Stelle.

Zu den “Sozialreports” der Stadt Leipzig: www.leipzig.de/de/buerger/aemterhome/jugendamt/publik/Sozialreport-der-Stadt-Leipzig-19926.shtml

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