Es läuft etwas gewaltig schief, wenn tausende Kinder über Jahre in Hartz IV gezählt werden, wenn die Zahlen partout nicht sinken und in einigen Großstädten sogar wieder steigen. Denn das erzählt nun einmal davon, wie schief die deutsche Familienpolitik ist. Es erzählt aber auch davon, wie familienunfreundlich unsere Arbeitswelt ist. Denn Eltern mit kleinen Kindern sind ja nicht so „effizient“ und „leistungsfähig“, nicht wahr?

Um etwas anderes geht es gar nicht. Es geht um ein Verständnis von Wirtschaft, in der der Leistungsdruck immer mehr erhöht wird, in dem die Arbeitskräfte immer flexibler, mobiler und austauschbarer werden sollen. Ein Effizienzdenken, das im Grunde den Sinn von Arbeit völlig auf den Kopf stellt. Man arbeitet nicht mehr, weil Arbeit dem Leben Sinn gibt und sinnvolle Dinge hergestellt werden, sondern um Renditeerwartungen zu erfüllen und eine riesige Konsummaschine in Gang zu halten, die mit dem, was man fürs Leben wirklich braucht, nichts mehr zu tu hat.

Und die ersten, die aus dem Arbeitsprozess fliegen oder gar nicht erst reinkommen, sind die Alleinerziehenden, sind die nicht so gut qualifizierten Eltern … Sie tauchen in den Jobcentern sofort auf, wenn ihre Stadt in schwere Transformationsprozesse gerät. So wie derzeit die Großstädte im Ruhrgebiet. Aber es geht nicht nur um die Städte im Umbruch. Selbst die Goldsternchen unter den Städten schicken über zehn Prozent ihrer Kinder in die Armut.

Eigentlich ein sehr dumm regiertes Land, das jetzt schon allerenden jammert, es fehle der Nachwuchs für die Wirtschaft – und dann hebt man nicht einmal den Schatz der Kinder, sondern lässt hunderttausende junger Menschen einfach in Armut und meist damit verbundener sogenannter „Bildungsferne“ hängen, statt sich – als Gesellschaft – anzustrengen und alle diese Kinder mit klugen Programmen nicht nur aus der Armutsfalle zu holen, sondern ihnen die bestmöglichen Startchancen in ein selbstbestimmtes Berufsleben zu ermöglichen.

Wobei ich jetzt ja schon das fatale Wort „selbstbestimmt“ genannt habe. Die Politiker, die sich gern Wirtschaftskompetenz zuschreiben, haben in der Regel eine gewaltige Abneigung gegen selbstbestimmte junge Menschen. Sie wollen gern alles sortieren, kontrollieren und verwalten.

Das Ergebnis bringt Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) in einer neuen, kurzen Statistik zu Minderjährigen in den 15 deutschen Großstädten in Hartz IV auf den Punkt.

„Auf Rang 1 im Positiv-Ranking von 2006 bis 2018 ist immer München (M). Dresden (DD: 14,00 Prozent) verdrängt in 2018 erstmals, rechnerisch minimal und vorläufig, Stuttgart (S: 14,03 Prozent) von Rang 2 auf Rang 3“, schreibt er dazu.

„Aufgestiegen im Positiv-Ranking neben Dresden (DD): Leipzig (L 2018: Rang 9), Berlin (B: 2017/18: Rang 11; bis 2015 auf Rang 15) und nach 2015 das zuvor abgestiegene Frankfurt am Main (F: 2017/18 Rang 5). Die SGB-II-Quoten u18 reichten 2018 in den 15 Großstädten von 11,0 Prozent in München (M) bis 31,3 Prozent in Bremen (HB) und 33,8 Prozent in Essen (E: Europäische Kulturhauptstadt im Agenda-Jahr 2010). In Bremen (HB) und Essen (E) wurden in 2018 mehr minderjährige unverheiratete Kinder und Jugendliche in SGB-II Bedarfsgemeinschaften registriert als in den zwölf Vorjahren (2006 bis 2017).“

Was eben auch heißt: Selbst in der reichen Stadt München leben 11 Prozent der Kinder in Bedarfsgemeinschaften. Und es ist in München nicht anders als in Hamburg, Berlin oder Leipzig: Es ist ein miserabler Start ins Leben für diese Kinder. Sie bekommen schon früh mit was es heißt, wenn das Geld nur gnadenweise zugeteilt wird, wenn die Unterstützung fehlt und die Schule mehr als nur eine Herausforderung wird.

Dass ausgerechnet die drei ostdeutschen Städte Dresden, Leipzig und Berlin im Ranking die ganze Zeit aufsteigen, hat mehrere Gründe. Einer davon ist der längst schon seit Jahren spürbare Mangel an Fachkräften in einigen Branchen – viele Unternehmen sind gezwungen, endlich familienfreundlichere Arbeitsbedingungen zu bieten, um auch die Eltern kleiner Kinder beschäftigen zu können.

Wobei der Rückgang in Dresden und Berlin noch überschaubar ist. In Leipzig stagnieren die Zahlen von Kindern in Bedarfsgemeinschaften sogar. Aber das reicht 2018 sogar, um nach Prozenten Köln knapp zu überholen. In den meisten Großstädten stagnieren die Zahlen von Minderjährigen in Bedarfsgemeinschaften oder steigen sogar deutlich an wie in Bremen. Dass die Prozentwerte in einigen Städten sinken, hat vor allem mit der steigenden Gesamtkinderzahl und dem Bevölkerungswachstum zu tun.

Was zumindest vermuten lässt, dass die zuwandernden jungen Eltern vom wachsenden Arbeitsplatzangebot profitieren und mit ihren Kindern deshalb auch nicht in „Hartz IV“ landen, während sich in den Städten selbst die Arbeitslosigkeit in einem Teil der ansässigen Bevölkerung verfestigt und sich „Hartz IV“ quasi vererbt. Aber nicht, weil die Leute – wie es einige Effizienz-Propagandisten gern behaupten – in der „sozialen Hängematte“ liegen, sondern weil ihnen genau die Unterstützung fehlt, die sie bräuchten, um aus den Schleifen der Abhängigkeit, der Unterqualifizierung und der Demotivation herauszukommen.

Oder mal so formuliert: Es fehlt in allen Bundesländern ein echtes Motivationsprogramm vor allem für die Kinder aus diesen Familien. Auch in Sachsen werden sie im dreigliedrigen Schulsystem systematisch aussortiert und demotiviert. Und im Ergebnis ist in Leipzig immer noch jedes fünfte Kind in einer Bedarfsgemeinschaft zu Hause. München, Dresden und Stuttgart sind wirklich die einzigen Großstädte, die deutlich unter diesen Wert kommen, während in Duisburg, Essen, Dortmund und Bremen inzwischen jedes dritte Kind in einer Jobcenter-Familie lebt.

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