Deutsche Medien überboten sich ja in den vergangenen Tagen mit Schockermeldungen, prophezeiten gar Zustände wie in Norditalien. Während einige Politiker mit ADHS-Syndrom schon wieder forderten, die Kontaktbeschränkungen bald möglichst zu lockern, weil die Zahlen nicht mehr so stark steigen. Selbst der Chef des Robert-Koch-Instituts macht aus jeder neuen Zahl ein Drama, obwohl gerade er wissen müsste, dass seine Zahlen nicht die Wirklichkeit abbilden. Schon gar nicht die ganze.

Was Gerd Bosbach, Deutschlands wohl bekanntester Statistiker, in einem Interview mit den „Nachdenkseiten“ am 26. März recht emotional thematisierte.

Dort sagte er in Bezug auf den Präsidenten des Robert Koch-Instituts: „Lothar Wieler ist mir dann später aufgefallen, als er mit dem Satz ,80 % aller Fälle verlaufen glimpflich‘ scheinbar entwarnen wollte. Damit sagte er jedoch auch, dass 20 % aller Fälle eben nicht glimpflich verlaufen und machte Angst. Dabei waren seine Prozentzahlen wieder nur auf die positiv Getesteten bezogen, also nicht auf alle Infizierten. Und am frühen Montag dieser Woche wendete er sich mit der Botschaft an die Medien, dass die Steigerungszahlen zurückgingen, was darauf schließen ließe, dass die Maßnahmen bereits wirkten. Da habe ich mir an den Kopf gefasst und mich gefragt: Was ist das nur für ein Unwissender. Wir haben erst die Daten vom Wochenende. An einem Wochenende wird nun einmal weniger getestet und weniger gemeldet. Am Montagmorgen mit diesen Zahlen an die Öffentlichkeit zu gehen und ,vorsichtigen Optimismus‘ zu verbreiten, hat mich ehrlich gesagt schockiert.“

Im Interview nimmt der Statistiker systematisch auseinander, was es mit all den Zahlen und Mortalitätsraten und Getesteten und Infizierten auf sich hat. Und was wir darüber wissen. Nämlich nur genau jenen Bruchteil, der auch getestet wurde. Wie viele Deutsche tatsächlich infiziert wurden, weiß niemand, auch wenn gern auf die hohen Testraten in Deutschland verwiesen wird.

Es ist gut möglich, dass all die Maßnahmen, die in Deutschland seit dem 13. März ergriffen wurden, wirken. Aber sie bewirken erst einmal nicht, dass die Ausbreitung von Covid-19 gestoppt wurde, sondern nur erst einmal gebremst. Ob ausreichend, das weiß niemand, da ja unterschiedliche Regionen unterschiedlich stark betroffen sind. Während gerade ostdeutsche Regionen noch relativ Spielraum haben, ist es in einigen Regionen Bayerns und Nordrhein-Westfalens schon knapp. Einige Krankenhäuser arbeiten dort schon an der Leistungsgrenze.

Gemeldet aber wird nur, was auch getestet wurde. Und es werden nun einmal nicht alle getestet, nicht einmal alle mit Schnupfen und Husten. Wenn also in den letzten Tagen im Schnitt 4.000 bis 4.500 Infizierte pro Tag mehr gemeldet wurden, sind das nur die Menschen, die in den letzten Tagen auch getestet wurden und deren Testergebnisse auch ans RKI gemeldet wurden – oft mit Tagen Verspätung, weil logischerweise der Schreibkram erst an zweiter Stelle kommt, wenn es um das Leben der Patienten geht. Da gibt es weder zur Entwarnung einen Grund, noch zur Panikmache, wie Gerd Bosbach betont und auch die Millionen-Zahlen der Gesellschaft für Epidemiologie, die die FAZ am 20. März veröffentlichte, infrage stellt.

Er hält die dort propagierten Zahlen von 5,7 Millionen Infizierten (nach 50 Tagen) und 1,1 Millionen Intensivbetreuungen (nach 100 Tagen) für nicht realistisch. So viele Betten auf Intensivstationen gibt es in Deutschland ganz bestimmt nicht. Diese Betten sind ja der eigentliche Engpass.

„Es ist inzwischen als Sachverhalt bekannt, dass wir die Gesamtzahl der Infizierten gar nicht kennen. Wer keine Symptome hat, wird nicht getestet, andere auch nur sehr eingeschränkt“, so Bosbach im erwähnten Interview.

„Das wissen wir. Aber sobald wieder Zahlen genannt werden, tun wir wieder so, als würden wir diese genau kennen. Was wir kennen, ist die Zahl der positiv Getesteten. Die Zahl der Infizierten ist auf jeden Fall deutlich höher, aber niemand kann sagen, um welchen Faktor. Um dies zu beantworten, bräuchten wir eine repräsentative Stichprobe aus der Bevölkerung. Das ist zur Zeit mangels Testkapazitäten in Deutschland nicht machbar.“

Man kann den Frust des Statistikers über all die Panikmache (oder Entwarnung) mit Zahlen gut verstehen.

Da vergisst man beinah, wie hart gerade in den Brennpunkten des Geschehens daran gearbeitet wird, die Epidemie überhaupt in den Griff zu bekommen und die Kliniken und Intensivstationen am Laufen zu halten.

Die gemeldeten Fallzahlen steigen zwar nur noch linear und zum Glück nicht exponentiell, wie das ohne all die abgesagten Veranstaltungen, geschlossenen Betriebe und Theater wäre. Aber das kann sich, wenn zu früh Entwarnung gegeben wird, schnell wieder ändern.

Denn gerade große Menschenansammlungen sorgen dafür, dass das Virus sich wieder ungehindert ausbreiten kann. In Bergamo ist zu besichtigen, was passiert, wenn man das zu spät verhindert. Vielleicht wissen wir in zwei Wochen tatsächlich, ob die verordneten Maßnahmen tatsächlich helfen und Deutschland relativ glimpflich durch die Pandemie kommt. Früher wohl eher nicht.

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