Man kann, wenn man Wahlen auswertet, natürlich die betroffenen Politiker/-innen fragen. Die werden dann aus ihrer Betroffenheit heraus versuchen, Erklärungen zu finden. Man kann auch die Wähler/-innen fragen. Aber auch die werden oft nicht wissen, warum sie ausgerechnet so gewählt haben. Man kann aber auch die Zahlen einfach in die Rechenmaschine stecken, so wie das Paul M. Schröder immer macht.

Traditionell macht er das für das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) vor allem mit Erwerbslosenzahlen und all den Wasserstandsberichten der Agentur für Arbeit, was oft schon zu sehr erhellenden Erkenntnissen zum Funktionieren bzw. dem Nicht-Funktionieren deutscher Arbeitsmarktpolitik führt.Aber dasselbe kann man mit den offiziellen Zahlen zur Bundestagswahl 2021 machen. Nur dass Schröder diesmal etwas genauer wissen wollte, in welchem Bundesland die einzelnen Parteien nun besonders zugelegt oder verloren haben. Was natürlich bei CDU und CSU besonders spannend ist, denn alle Fernsehkanäle sind ja voller Orakel, wer nun am schlechtesten Ergebnis seit Urzeiten schuld sein soll.

Die meisten Finger zeigen auf Armin Laschet, dem – auch nach Ansicht der meisten Kommentatoren – die nötigen Show- und Führungsqualitäten abgehen. Aber mit einem Wählerverlust von 20,1 Prozent hat Laschet in NRW noch den geringsten Verlust der CDU auf Landesebene eingefahren.

Nur sein bayerischer Kontrahent Markus Söder steht mit minus 16,3 Prozent noch etwas besser da. Was nun einmal auch bedeutet: In beiden Bundesländern reichte der Ruhm ihrer Spitzenleute nicht aus, um die Talfahrt der Union zu verhindern.

Die Auswertung des BIAJ zur Bundestagswahl 2021.

Union kein Angebot mehr für den Osten?

In anderen Bundesländern waren die Verluste freilich noch größer. Die heftigsten Einbrüche gab es ausgerechnet in den östlichen Bundesländern – allen voran Mecklenburg-Vorpommern mit 47,9 Prozent, gefolgt von Thüringen mit 42,7 Prozent und Brandenburg mit 41,2 Prozent.

Nur Hamburg schiebt sich mit 41,7 Prozent noch dazwischen. Das kann man entweder so interpretieren, dass Armin Laschet als Unions-Kanzlerkandidat im Osten einfach nicht überzeugte, was ja den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt Reiner Haseloff (CDU) schon früh zu der Ansicht brachte, dass Laschet schlicht der falsche Kandidat war. Söder würde wohl im Osten mehr gezogen haben. (So berichtete der „Spiegel“.)

Aber man kann das Ergebnis auch so interpretieren, dass der Osten sich in der CDU-Politik auf Bundesebene nicht mehr wiederfindet, sich schlicht nicht mehr angesprochen fühlt.

Was aber wiederum der Möchtegern-Protestpartei AfD gar nichts genützt hat. Denn sie hat nur in Thüringen 3 Prozent der Wählerstimmen hinzugewonnen. In Sachsen hat sie sogar über 9 Prozent der Stimmen von 2017 eingebüßt. Das fällt nur nicht so auf, weil ja die Verluste bei der CDU noch viel größer waren.

Aber die Wahl zeigte eben auch, dass die Mehrzahl der Wähler/-innen keinesfalls gewillt ist, eine rechtsradikale Partei zu wählen, egal, wie sie sich aufbläst. Die Stimmen sind von der CDU zur wirklichen politischen Konkurrenz abgewandert – zu SPD, FDP und Grünen. Zu Parteien, denen die Wähler/-innen demokratisches Grundverständnis und ein Mindestmaß an Regierungsfähigkeit zuschreiben.

Der Osten wird bunter

Was gerade für die SPD Zugewinne bedeutete, von denen sie seit 16 Jahren vergeblich geträumt hatte. Der Union dürfte erst ganz langsam klar werden, was für ein Glücksfall für sie eine Kanzlerin Angela Merkel gewesen ist, wie sie in persona für viele Wähler/-innen etwas verkörperte, was die nachrückenden Herren in der Union bislang nicht vorzuweisen haben. Wagen wir mal das freche Wort: Seriosität.

Vielleicht auch Stabilität und Respekt. Eben letztes Wort ließ ja dafür SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz plakatieren und schaffte damit, dass die SPD allein in Sachsen ihre Zweitstimmenzahl um über 81 Prozent steigern konnte. Von einem natürlich sehr mageren Ergebnis ausgehend. In Sachsen war die SPD ja nun seit Jahren regelrecht gefangen im Keller der Wahlergebnisse, kämpfte tapfer um die 10 Prozent und galt seit Kurt Biedenkopfs Zeiten nicht als ernsthafter Konkurrent für die CDU. Aber das hat sich am 26. September deutlich geändert.

Wobei das noch nicht einmal der höchste Zuwachs für die SPD war, den schaffte sie in Mecklenburg-Vorpommern, wo ja parallel auch Landtagswahlen stattfanden und Manuela Schwesig für die SPD einen deutlichen Sieg einfuhr: 91,4 Prozent mehr gegenüber der Bundestagswahl 2017 bedeutet eben nicht nur – wie Haseloff meinte – weniger Stimmen für die CDU, die dann Laschet fehlten.

Sondern eben auch mehr Stimmen für die SPD, die so im Osten erstmals wieder richtig sichtbar wurde. In Brandenburg, das immerhin ein traditionell spd-geführtes Bundesland ist, holte sie 72 Prozent Stimmen mehr, aber auch in Thüringen 73 und in Sachsen-Anhalt 61 Prozent.

Das kann man auch als eine Sehnsucht der Ostdeutschen nach einer Regierung interpretieren, die verlässlich und berechenbar ist und der man zutraut, die anstehenden Probleme, die die meisten Ostdeutschen sehr wohl sehen, auch lösen zu können. Denn wenn sie nicht angepackt werden, wird das auch dem Osten nicht guttun. Im Gegenteil.

Und so frappiert auch der Gesamtzuwachs der SPD für Ostdeutschland, den Schröder mit 63,8 Prozent berechnet, während es im Westen nur 18 Prozent mehr waren.

Mehr Grün und mehr Gelb

Zeitweilig rechneten sich ja die Grünen aus, im Osten jetzt vielleicht noch mehr zuzulegen. Und zugelegt haben sie ja, wenn auch nicht in den erwarteten Größenordnungen. Aber allein in Sachsen wuchs der Stimmenanteil um 86,9 Prozent. Im benachbarten Sachsen-Anhalt waren es 70, in Thüringen 56 Prozent, in Brandenburg 83.

Für einige Wähler/-innen war das durchaus eine Klimawahl. Andere sahen nur die dringende Notwendigkeit, dass sich die deutsche Politik endlich ändern muss und auch die Politik sich modernisieren muss. Die wählten dann eher FDP, die ja in Ostdeutschland 20,7 Prozent an Wählerstimmen zulegte. Im Westen waren es nur 3,7 Prozent.

Das heißt: Eigentlich gab es bei dieser Bundestagswahl die größten Veränderungen allesamt in Ostdeutschland. Und in gewisser Weise hat Haseloff natürlich recht, dass der Osten diese Wahl zwar nicht gewonnen, aber entschieden hat. Denn die dramatischen Veränderungen im demokratischen Parteienspektrum haben die wirklich machbaren Koalitionsmöglichkeiten in Berlin bestimmt. Und sie haben drei Parteien gestärkt, die in den vergangenen Jahrzehnten meist wenig Unterstützung aus dem Osten bekamen: SPD, FDP und Grüne.

Und das ist nun einmal auch eine Wahlentscheidung für eine Politik, die wirklich Veränderung gestaltet. Und zwar Veränderung zu einem moderneren Land, nicht zu einem, wie es sich die Schwarzmaler de AfD ausmalen, die auch im Osten 8,7 Prozent der Stimmen gegenüber 2017 einbüßten. Im Westen waren die Verluste der AfD noch größer.

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