Was wusste Sachsens Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Anfang 2000 wirklich über das Treiben des rechtsextremen Terror-Netzwerks NSU? Ein Bericht des SWR-Magazins "Report Mainz" sorgt seit gestern für helle Aufregung. In einem als Verschlusssache eingestuften Antrag bat der Nachrichtendienst die G10-Kommission des Landtags um die Zustimmung zu einer Überwachungsmaßnahme. Im Visier: Die drei Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, sowie vier mutmaßliche Unterstützer des Trios. Das fast schon Prophetische am Schreiben: Die Schlapphüte befürchteten terroristische Gewalttaten. Logisch folgernd von "Rechts", also Rechtsterrorismus. Dieser wurde jedoch bis heute immer bestritten.

“Wusste das LfV Sachsen mehr über die terroristischen Bestrebungen des Zwickauer Terrortrios als es uns bislang glauben machen wollte? Wie kam es zu dieser präzisen Einschätzung?”, will Miro Jennerjahn, Obmann der Grünen im sächsischen NSU-Untersuchungsausschuss, wissen. Der damalige LfV-Präsident Boos hatte in seiner Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss am 4. März auf Nachfragen des Vorsitzenden Patrick Schreiber (CDU) mehrfach betont, dass das Trio zwar als militante Rechtsextremisten eingestuft worden sei, nicht aber als Rechtsterroristen. Es hätte keinerlei Anhaltspunkte für Rechtsterrorismus gegeben.

Auch Olaf Vahrenhold, der zum damaligen Zeitpunkt Aufsichtsbeamter für die G10-Maßnahme war und über dessen Tisch das Schreiben an Innenminister Klaus Hardraht (CDU) ging, betonte in seiner Vernehmung am 17. Dezember 2012, es habe keine Anhaltspunkte für die Existenz rechtsterroristischer Gruppierungen gegeben.

Diese Aussagen stehen nun im deutlichen Widerspruch zu der Begründung der G10-Maßnahme im Schreiben an Hardraht. “Das LfV, aber auch das Innenministerium, kann sich nicht länger damit herausreden, dass es die Gefahr des Rechtsterrorismus durch das Trio nicht gesehen habe”, betont Jennerjahn. Das Schreiben lege nahe, dass die Gefahr gesehen, aber nicht weiter gehandelt wurde. Das LfV Sachsen hätte aufgrund dieser Einschätzung und dem Wissen, dass sich das Trio in Sachsen aufhielt – diese Kenntnis bestand nach Aussage von Reinhard Boos spätestens seit dem 9. Oktober 1998 – in eigener Verantwortung nach dem Trio fahnden und insbesondere die Polizei über die Gefährlichkeit des Trios unterrichten müssen.”

Warum ist beides nicht geschehen? L-IZ.de hakte am Mittwoch schriftlich bei Hardraht nach. Der 71-Jährige, der heute in Dresden als Wirtschaftsanwalt arbeitet, ließ die Anfrage bisher unbeantwortet. Jennerjahn beklagt derweil, die sächsischen Schlapphüte hätten sich auf der Federführung ihrer Thüringer Kollegen ausgeruht. Also der Behörde, die in den Neunzigern den Tino Brandt für Informantendienste über 200.000 D-Mark in die Tasche und mutmaßlich damit in die Aufbauarbeit des “Thüringer Heimatschutzes” schob. Der Neonazi errichtete nach heutigen Erkenntnissen damit die ideologische, personelle und strukturelle Keimzelle des späteren NSU. Mit dem beständigen Verweis des LfV Sachsen auf die Thüringer Kollegen und der eigenen Untätigkeit jedoch bestünde dennoch “… eine Mitverantwortung für den Tod von zehn Menschen”, beklagt Jennerjahn.
Das Landesamt reagierte ungewohnt flott auf den SWR-Bericht. Vor Ausstrahlung betonte die Behörde, die Geheimpapiere zur “Operation Terzett”, so ihr Name im Geheimdienstsprech, würden den Untersuchungsausschüssen von Bundestag und sächsischem Landtag seit Langem vorliegen. Und ohnehin hätten die Medien schon im Oktober 2012 über deren Inhalt berichtet.

Also alles Schnee von gestern. Mitnichten. “Es geht nicht um die Frage, ob die G10-Maßnahme ‘Terzett’ bekannt war und die Dokumente den Untersuchungsausschüssen des Sächsischen Landtags und des Bundestags vorliegen, sondern um den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem Inhalt des Schreibens und den Aussagen von Reinhard Boos und Dr. Vahrenholt vor dem Untersuchungsausschuss.”, erklärt Jennerjahn. “Die im Untersuchungsausschuss geladenen Zeugen sind verpflichtet, von sich aus die Wahrheit zu sagen. Es ist uns als Mitgliedern des Untersuchungsausschusses untersagt, in öffentlicher Sitzung Zeugen mit geheimen Dokumenten zu konfrontieren und auch über den Inhalt geheimer Sitzungen dürfen wir uns in der Öffentlichkeit nicht äußern.”

Die Linken-Abgeordnete Kerstin Köditz, bekennende Verfassungsschutz-Gegnerin, fällt dagegen auf die PR-Strategie der Behörde rein. “Der Beitrag geht von der Grundthese aus, die Behörden wären bereits im Jahr 2000 von der Existenz einer terroristischen Gruppierung ausgegangen”, so Köditz. “Für mich gibt es im Gegensatz dazu deutlich mehr Hinweise darauf, dass die zuständige G10-Kommission des Landtages bewusst getäuscht werden sollte, um deren Zustimmung zu der geplanten Abhörmaßnahme zu erhalten. Denn eigentlich hätte der Geheimdienst in dieser Angelegenheit gar nicht tätig werden dürfen, da es sich um die Verfolgung begangener oder geplanter Straftaten handelte – und dafür ist ausschließlich die Polizei zuständig.” Dem steht schlicht gegenüber, dass der Verfassungsschutz damals zumindest richtig lag.

Doch handelte das Landesamt im polizeilichen Auftrag? Und kaschierte das Landesamt deswegen die Ahnungslosigkeit, die ihm die Linken regelmäßig attestieren, mit der Fabel von einer Terrorgruppe? Die These passt trefflich in die politische Linie, die die Linkspartei in Bezug auf den Inlandsnachrichtendienst fährt. Schließlich fordert sie dessen Abschaffung. Wahrscheinlicher scheint derzeit eine andere Theorie: Könnte es sein, dass der Geheimdienst mit der Aufspürung des Trios eigene Interessen verfolgte. Wollten die Schlapphüte, die die Gefährlichkeit der drei Neonazis letztlich wohl verkannten, die Kameraden, die in ihrer Szene als Märtyrer gefeiert wurden, womöglich als Quellen anwerben?

Heute durchsuchten Bundesanwaltschaft und Polizei 21 Wohnungen und andere Objekte. Die Ermittlungen richten sich gegen die “Revolutionären Aktionszellen” – eine militante, linksradikale Gruppe, die in Berlin mehrere Bombenanschläge verübte und an Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, Vize-Generalbundesanwalt Rainer Griessbaum sowie die Extremismusforscher Eckhard Jesse und Uwe Backes Patronenhülsen verschickte. Die Ermittler werfen den mutmaßlichen Mitglieder der bizarren Gruppe die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor.

Warum richtete sich derselbe Vorwurf 1998 oder 2000 nicht gegen die späteren Nazi-Terroristen. Hätte es sich um Linksextremisten gehandelt, wären die Bombenfunde in Böhnhardts Garage für die Justiz wohl Anlass genug gewesen, um schwere Geschütze aufzufahren. Wird wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt, stehen den Fahndern sehr weitreichende Befugnisse zu. Darunter auch die Überwachung von Telefonen. Angesichts der Einschätzung des LfV Sachsen gegenüber Hardraht, es handele sich um Terroristen, die sich in Sachsen aufhalten, muss stutzig machen, dass die sächsischen Fahnder damals kein bis heute bekanntes Verfahren einleiteten.

Warum wurde der Druck auf die Zelle von sächsischer Seite nicht massiv erhöht, nachdem der G10-Antrag auf Hardrahts Schreibtisch landete. Als Innenminister war der Politiker für die innere Sicherheit des Freistaats verantwortlich. Gab er seinen Polizisten womöglich persönlich den Befehl, im Fall des Trios nicht alle Mittel auszuschöpfen, die die Strafprozessordnung hergibt, damit seine Schlapphüte freie Bahn hatten? Warum sagten Vahrenhold und Boos vor dem Untersuchungsausschuss nicht die Wahrheit? Was haben die Spitzenbeamten bei der Befragung besser ausgelassen? Hardraht könnte Licht ins Dunkel bringen. Doch der Innenminister außer Dienst hüllt sich noch in Schweigen.

Nachtrag vom 24. Mai 2013: “Für Vorgänge, die ich während meiner Amtszeit als Innenminister bearbeitet habe, unterliege ich der Verpflichtung der Amtsverschwiegenheit. Diese gilt auch für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Amt. Aussagen darf ich lediglich vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der Staatsanwaltschaft und vor Gericht. Ich kann deshalb zu Ihren Fragen nicht Stellung nehmen.” so Klaus Hardraht auf L-IZ-Anfrage zum Thema.

Zum “Report Mainz” – Beitrag auf dem SWR

www.swr.de

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