Im Rollstuhl sitzen zu müssen, ist für viele anfangs ein schwerer Schlag. Gerade heutzutage bedeutet er allerdings nicht, auf alles verzichten zu müssen. Es ist eben nur anders. Der SC DHfK bietet Rollstuhlfahrern beispielsweise wöchentlich freudbetontes Leichtathletik-Training unter den Augen eines lockeren Olympiatrainers an. Doch für die Teilnehmer geht es um mehr als nur um Sport.

“Nanu, was macht denn Lothar Tischendorf hier?” Der ehemalige Wurftrainer des LAZ, der Athleten wie Martina Hellmann oder Peter Sack zu Olympiaden brachte, steht lässig in Jeans und Outdoor-Winterweste in der Leichtathletik-Halle des Olympiastützpunkts nördlich des Zentralstadions. Wie jedem anderen Sportlehrer oder Trainer sieht man auch Tischendorf sein Alter nicht an, er wirkt fit wie eh und je. Eigentlich hatte er vor fünf Jahren aufgehört, in der Leichtathletik-Halle des Stützpunkts war er deshalb inmitten von Hochsprung-Ständern, Kästen und Hockern nicht zu erwarten gewesen. Für die sieben Rollstuhlfahrer in der Halle ist der Wurftrainer allerdings kein Fremdobjekt, sie kennen Tischendorf teilweise seit über 20 Jahren. Kurz nach der Wende hatte dieser zusätzlich die Rollstuhlsportgruppe des SC DHfK übernommen. “Ein Freund von mir konnte die Zeit nicht mehr absichern und hat mich gefragt. Ich hatte das noch nie gemacht, aber zugesagt”, klärt Tischendorf über die Konstellation auf.

Es ist Donnerstag, 9:30 Uhr. Wie jeden Donnerstag haben sich einige Rollstuhlfahrer in der Halle versammelt. Im Gegensatz zu seinen Werfern muss sie Tischendorf nicht fit für eine Olympiade machen. Ihnen reicht es, so fit zu bleiben, wie sie sind. “Rollt euch mal ein”, fordert Tischendorf die Gesellschaft auf, die alsbald gediegen die Tartanbahn entlang rollt. Die übliche Trainingseinheit des Rollstuhlsports beginnt. Seit 20 Jahren treffen sich Rollstuhlfahrer jeden Alters immer donnerstags, um ihren Muskelapparat im Arm- und Oberkörperbereich auf einem bestimmten Niveau zu halten, sich mit anderen Rollstuhlfahrern auszutauschen, einfach auch soziale Kontaktpflege zu betreiben. Mehrere Runden rollen die heute sieben Rollstuhl-Athleten durch die Halle, wo sonst die Besten des LAZ trainieren.
Zu DDR-Zeiten war der Rollstuhlsport bei Chemie Leipzig eine große Nummer, die Athleten nahmen an DDR-Meisterschaften teil, spielten auch Rollstuhl-Basketball. Peter Probst war einer von ihnen. Mit der Basketball-Mannschaft holte er einst den DDR-Meistertitel, wurde noch Vizemeister und Dritter, bei den DDR-Meisterschaften in der Leichtathletik belegte er den 6. Platz. Seit 1978 sitzt der heute 57-Jährige im Rollstuhl. “Der Rollstuhlsport gehört für mich dazu. Ich will fit bleiben und das vertiefen, was ich bisher gelernt haben.”

“Armkreisen!”, fordert Lothar Tischendorf, seine Rollstuhlfahrer haben inzwischen einen Kreis gebildet. Während die neuesten Informationen aus Zeitung und Fernsehen und das aktuelle Programm der Musikalischen Komödie diskutiert werden, macht Tischendorf eine Übung nach der anderen vor. Er steht mitten zwischen den Fahrern, nicht nur bei der Übung. Zum Schluss stützt sich jeder noch ein paar Zentimeter aus seinem Rollstuhl. Lachend beenden alle die Gymnastik und rollen wieder auf die Tartanbahn. Der Trainer hat Steigerungsfahrten angesetzt, sechs Stück. Alle Rollis haben sich Handschuhe angezogen, beim Bremsen könnten sich sonst leicht rote Bremsspuren in die Hände brennen. Es ist die einzige Ausrüstung, die sie brauchen.

Der Rollstuhl ist der, mit dem sie sonst auch ihren Alltag bestreiten, die Sportelemente stellt der SC DHfK. Nachdem alle in Gruppen ihre Steigerungsfahrten absolviert haben, geht es in einen kleinen Wettbewerb. Tischendorf hat sich am Ende einer Geraden postiert, in 55 Metern Entfernung stehen ihm seine Sportler gegenüber. “Fertig! Ab!”, ruft er, dann rollen sie in Gruppen von zweien oder dreien los, besser: sie düsen teilweise ab, obwohl die meisten von ihnen nicht mehr die Jüngsten sind. Peter Probst ist mit seinen 57 keineswegs der Älteste, eine seiner Kameradinnen ist über 70. Die jüngsten beiden Athleten sind gerade noch so in ihren Zwanzigern, die Nachwuchssorgen waren deshalb auch schon mal kleiner. “Ich wurde noch im Krankenhaus von einem Physiotherapeuten angesprochen, ob ich nicht zum Rollstuhlsport gehen will”, berichtet Probst, der sich die Trainingseinheit einmal angesehen hatte und seitdem dabei blieb.

“Heute kommen die Meisten einmal, schauen sich das an, sehen, dass es mit Anstrengung verbunden ist und kommen nie wieder.” Dabei ist der soziale Aspekt dieser Trainingseinheit für Viele nicht zu unterschätzen. “Wir tauschen uns nebenbei über die üblichen Rolli-Themen aus und kommen auch privat gut miteinander aus”, so Probst. Die Halle, in die die Gruppe im Winter ausweicht, ist zudem absolut behindertengerecht und barrierefrei. Dass jeden Donnerstag 9:30 Uhr Training ist, ist laut Probst für viele Rollstuhlfahrer kein Problem. “Welcher Rollifahrer hat denn schon Arbeit?”, zuckt er mit den Achseln, “und wenn, dann würden viele Arbeitgeber sicher Verständnis haben.”
Auch bei Tischendorf gibt es genügend zu tun. Nach den Sprints, pro Rolli drei Stück, ist Wurftraining angesetzt. Diskuswerfen, Kugelstoßen, Speerwerfen, die Palette ist groß. Nebenbei ist immer ein Schwätzchen drin, bierernst nimmt niemand das Training, jeder will sich bewegen, Höchstleistungen strebt in dieser Gruppe offiziell niemand an, dafür ist danach Platz. Donnerstags 11 Uhr trainieren die Leistungssportler, drei Stück sind es derzeit. Probst und seine Mitstreiter haben im Jahr nur zwei breitensportliche Wettkämpfe: das internationale Sportfest in Tangerhütte und das eigene Sportfest, wo die gesamte Abteilung zusammenkommt. “Insgesamt sind wir um die 30 Mitglieder, aber die Meisten wohnen außerhalb, sie kommen meist nur zu den Trainingswochenenden”, verrät Probst.

Diese Trainingswochenenden gibt es vier- bis fünfmal im Jahr, die Athleten treffen sich Freitagnachmittag bis Samstagnachmittag. Probst erinnert sich: “So trainierte man zu DDR-Zeiten bei Chemie Leipzig. Da wurde nicht wöchentlich trainiert, sondern immer am Wochenende.” Nach der Wende hatten die Rollstuhlsportler keine Zukunft bei Chemie und wechselten zum SC DHfK. Seitdem war Probst stellvertretender Abteilungsleiter, seit zwei Jahren ist er Leiter. Seine Abteilung nahm bis vor ein paar Jahren auch noch mit einer Rollstuhl-Basketballmannschaft am Spielbetrieb der Regionalliga Mitte teil, “aber damit haben wir aufgehört. Die Regeln wurden so sehr geändert, dass es nichts mehr mit Behinderten-Basketball zu tun hatte.” – Mannschaften konnten beispielsweise auch Nichtbehinderte spielen lassen.

Nach anderthalb Stunden erklärt Tischendorf das Training für beendet. Während die Sportler ihre Wurfübungen absolvierten, sprach er mit einem Neuankömmling. “Bobfahrer, vor zwei Jahren schwerer Unfall, kann wieder laufen, aber will es bei uns probieren.” In seiner Stimme merkt man, dass ihn so ein Schicksal beschäftigt. Mittlerweile ist Tischendorf 71 Jahre alt, seine Rollis wird er trotzdem nicht so schnell verlassen. “Sie sind unheimlich dankbar und man kriegt soviel zurück.”
Hinweis:
Interessenten können donnerstags 9:30 Uhr in der Leichtathletik-Halle des Olympiastützpunkts vorbeischauen und/oder vorher Abteilungsleiter Peter Probst über die Internetseite der Abteilung kontaktieren. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 6,00 Euro im Monat.

Mehr Informationen:
Homepage der Abteilung Rollstuhlsport

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