Wie abhängig ist Ostdeutschland eigentlich vom russischen Markt? Pflegen Landesregierungen wie im Freistaat Sachsen nicht ein völlig falsches Bild von den alten guten Handelsbeziehungen in den Osten? Darauf deutet die aktuelle Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft hin, die besser durchs Jahr 2014 kommt, als von manchem Schwarzmaler erwartet.

Erst am 10. August warnte Sachsens Wirtschaftsminister Sven Morlok (FDP), dass die Bundesregierung vor allem “die ostdeutschen Betriebe im Blick behalten” müsse, “die traditionell enge Beziehungen zu Russland pflegen und daher besonders von den Auswirkungen der Sanktionen betroffen sein könnten. Die sächsischen Unternehmen exportieren jährlich Waren im Wert von rund 1,3 Milliarden Euro nach Russland. Damit liegt Russland als Handelspartner für Sachsen auf Rang 6, während es unter den weltweiten Handelspartnern der Bundesrepublik insgesamt nur Platz 11 belegt.”

Wie ordnet man das ein? – Der sächsische Export z.B. lag 2012 bei 31 Milliarden Euro, 2 Milliarden mehr als im Vorjahr. Die 1,3 Milliarden Export nach Russland, die Sven Morlok nennt, beziehen sich auf dieses Jahr. Auch wenn das nicht Rang 6 bedeutet, sondern höchstens Rang 7.

Rang 1 hat schon seit geraumer Zeit China – 2012 mit einem Importvolumen aus Sachsen von 4,9 Milliarden Euro, gefolgt von den USA (2,8 Milliarden), Großbritannien (1,8 Milliarden und Frankreich (1,6 Milliarden Euro). Beim Import spielt Russland für Sachsen eine klein wenig wichtigere Rolle: 2012 importierten die Unternehmen des Freistaats Produkte im Wert von 1,6 Milliarden Euro aus Russland. Der größere Teil davon Rohstoffe.

Der sächsische Außenhandel ist also ganz ähnlich international vernetzt wie der der ostdeutschen Wirtschaft insgesamt. Und Russland hat dabei ein ähnliches Gewicht wie andere “traditionelle Handelspartner” wie Polen (Export: 1,45 Milliarden Euro) oder die Tschechische Republik (1,35 Milliarden Euro).

Die Unternehmer aus Ostdeutschland müssen also in alle Himmelsrichtungen schauen und hoffen, dass ihre dortigen Märkte nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden. Als die Finanzkrise in den südeuropäischen Ländern 2010 ihren Gipfelpunkt erreichte, bekam das auch die sächsische Wirtschaft heftig zu spüren und hatte spürbare Umsatzrückgänge. Seitdem sind wichtige Handelspartner aus der Spitzengruppe der sächsischen Exportpartner verschwunden – Italien zum Beispiel oder Spanien. Ein Verlust, den Sachsens Unternehmen eher durch verstärkten Handel mit China ausglichen als den mit Russland.

Und das gilt wohl auch für die gesamte ostdeutsche Wirtschaft, wie jetzt eine Befragung des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zeigt: Der große Schock aus der Ukraine-Krise blieb bislang aus.

“Die Wirtschaft in Ostdeutschland dürfte im Jahr 2014 recht kräftig (um 1,8 %) expandieren”, stellen die Forscher des IWH fest. “Damit ist der Rückstand zu dem Expansionstempo in Westdeutschland (2 %) deutlich geringer als in den Jahren zuvor, obwohl Bevölkerung und Erwerbspersonenpotenzial in Ostdeutschland weiter fallen und im Westen steigen. Die Gründe für die Dynamik im Osten sind konjunkturell: Wichtige Exportmärkte für die ostdeutsche Wirtschaft liegen vor allem im Euroraum und in den mitteleuropäischen Nachbarstaaten, und deshalb profitiert Ostdeutschland von der wenn auch zumeist sehr verhaltenen Besserung der Konjunktur in diesen Ländern besonders. Der dämpfende Effekt des Nachfragerückgangs aus Russland im Zusammenhang mit dem russisch-ukrainischen Konflikt ist begrenzt, denn das Land nahm im Jahr 2013 nur 3½ % der ostdeutschen Exporte ab.”

Was ja wohl im Klartext heißt: Die direkten osteuropäischen Nachbarn sind für die ostdeutsche Wirtschaft viel wichtiger als der Rohstofflieferant Russland. Und wenn die Wirtschaft im Osten Deutschlands profitiert, dann vor allem davon, dass die Länder vom Baltikum bis zum Balkan sich wirtschaftlich berappeln und zu festen Handelspartnern werden.Dass das Wirtschaftswachstum dann trotzdem hinter dem in Westdeutschland zurückbleibt, hat andere Gründe, die vor allem in der Struktur der regionalen Wirtschaft begründet sind.

“Zudem veranlasst die gute Konjunktur die Unternehmen in Deutschland dazu, ihre Lager aufzufüllen”, stellt das IWH noch fest. “Davon profitiert speziell das ostdeutsche Verarbeitende Gewerbe, denn dort hat die Produktion von Vorleistungsgütern, die bei einem Lageraufbau besonders gefragt sind, ein großes Gewicht. Die strukturellen Rückstände der ostdeutschen Wirtschaft gegenüber dem Westen verringern sich seit einigen Jahren aber kaum mehr.”

Die Gründe hat das IWH aber praktisch benannt: Im Osten sind vor allem Zulieferer zu Hause. Die eigentliche Wertschöpfung in der Endfertigung findet zum größten Teil nach wie vor in den Werkhallen Westdeutschlands statt. Also landen dort auch die Gewinnmargen aus dem Endvertrieb. Und wer an den Märkten mit technologischen Spitzenprodukten präsent ist, der bekommt fast zwangsläufig auch die höchsten Steigerungsraten beim Bruttoinlandsprodukt in seine Bilanz.

Die Zulieferer haben zwar ihren wesentlichen Anteil daran – da aber die Teilprodukte mit deutlich geringeren Margen gehandelt werden, ergibt sich dadurch das Phänomen einer scheinbar geringeren Produktivität.

Mit den Worten des IWH: “Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt bei etwa 67 % des Westniveaus, die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte bei etwa 84 %.” Ein Verhältnis, das die Forscher aus Halle für erklärungsbedürftig halten. Denn aus ihrer Sicht müssten ja die Einkommen auf dem Niveau des BIP-Verhältnisses liegen – bei 67 Prozent der Einkommen West.

“Den Unterschied erklären zu einem Großteil Pendlereinkommen von Ostdeutschen und die regionale Umverteilung über das Rentenversicherungssystem”, versuchen die Hallenser Forscher eine Erklärung zu finden. Die wahrscheinlich in dieser Auslegung nicht ausreicht, wahrscheinlich sogar die falschen Gewichte setzt, denn gerade die höheren Einkommen in der ostdeutschen Wirtschaft werden in der Regel in den Zweigniederlassungen westdeutscher Unternehmen erzielt. Die Löhne werden dann zwar im Osten gezahlt, das Betriebsergebnis aber schlägt sich in der Regel (samt den schönen Steuererträgen) am Hauptsitz des Unternehmens in Stuttgart, München oder Frankfurt nieder. Nicht alles, was scheinbar üppig im Osten ankommt, ist auch einer der so gern kritisierten Transfers von West nach Ost.

Dass die 84 Prozent Einkommensniveau dann im Schnitt trotzdem eher bescheiden sind, zeigt der Blick auf den Konsum.

“Der reale Konsum je Einwohner dürfte im Osten bei rund 90% des Westniveaus liegen”, haben die IWH-Leute errechnet. Und dann stellen sie noch etwas fest, was zu ihrer Einkommenstheorie gar nicht so recht passen mag: “Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ab dem Jahr 2015 wird den Durchschnittslohn im Osten deutlich stärker steigen lassen als in Westdeutschland, denn in Ostdeutschland arbeitet derzeit wohl fast jeder fünfte Arbeitnehmer für weniger als 8,50 Euro.”

Womit man bei der praktisch nie beleuchteten Schattenseite des BIP wäre, dass nämlich in allen Umsätzen, wirklich in allen, auch die vor Ort gezahlten Löhne und Gehälter stecken. Wenn diese steigen, sind die Unternehmen in der Regel gezwungen, entweder Einsparungen im Unternehmen zu finden oder die Lohnkosten auf die Verkaufspreise aufzuschlagen. Wenn die Verkaufspreise steigen, steigt auch das BIP.

Ein Blick auf die Branchen, die 2014 tatsächlich zur Steigerung des BIP beitragen, zeigt, dass neben dem (stark exportorientierten) Verarbeitenden Gewerbe auch die Bauwirtschaft zum Zuwachs beiträgt. Der kurze Winter und die lange warme Witterung bisher machen sich also bemerkbar. Und während die meisten Dienstleistungsbereiche ebenfalls bescheiden zum Zuwachs beitragen, steht bei “öffentliche und sonstige Dienstleistungen, Erziehung, Gesundheit, private Haushalte” eine klägliche Null. Hier steckt der ganze öffentliche Bereich drin, bei dem nicht nur Sachsen spart, als gäbe es kein Morgen mehr, und bei Lehrern, Polizisten, Professoren kürzt. Auch der ganze Krankenhausbereich steckt hier, der einmal mehr in der finanziellen Krise steckt, weil im liberalisierten deutschen Gesundheitswesen die Gelder gerade dort fehlen, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

Die Pressemitteilungen mit den Zahlen: www.iwh-halle.de/d/publik/presse/21-14.pdf

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