KommentarEigentlich sind die Themen von „Zeit“-Redakteur Tilman Steffen ja Rechtsextremismus, AfD und Die Linke. Aber am 2. August haute er einmal seinen Frust in die Tasten und schrieb so eine Art Wutausbruch und Opferklage des autofahrenden Menschen, der auf einmal Fahrspuren räumen muss. Besonders erschreckt hat ihn, dass jetzt sogar Boris Johnson so böse gegen Autofahrer ist. Sie sind doch die leidende Mehrheit, oder etwa nicht?

Bei Steffen klingt das so. „Obwohl so viele Menschen Auto fahren wollen wie nie, werden Fahrer drangsaliert“, schreibt er. Ohne Quellenangabe. Es dürfte ihm auch schwerfallen, eine Quelle zu finden. Außer bei so ganz und gar nicht unverdächtigen Portalen wie Autoscout24 oder so. Ist ja schlecht für die Eigenwerbung, wenn man da feststellen würde, dass das Interesse an einem neuen Auto so langsam schwindet. Die Verkaufszahlen sind im ersten Halbjahr eingebrochen. Nicht nur wegen Corona.

Auch wenn Corona viele potenzielle Käufer – wie die „Süddeutsche“ im April berichtete – erst mal dazu brachte, ihren Kauf zurückzustellen: „Laut Umfrage planen derzeit 14 Prozent der Deutschen, ein Auto zu kaufen. Weitere 7 Prozent wollten eigentlich ein Auto kaufen, haben ihre Pläne wegen der Coronakrise jetzt aber erst einmal ad acta gelegt. Um einen Anreiz zum Kauf eines Neuwagens zu bieten, müsste eine Prämie bei mindestens 5.000 Euro liegen, sagten 37 Prozent der Befragten.“

Die Kaufprämie in dieser Form kam ja zum Glück nicht. Da ließ die Bundesregierung endlich mal ein bisschen Vernunft walten. Das Auto ist nicht die Mobilitätslösung der Zukunft. Jedenfalls nicht in der fossilen Antriebsweise und überzüchteten Motorisierung, mit der die Autofahrer heute unsere Straßen unsicher machen.

Aber Steffen stellt in seiner Wutrede zu Recht fest: Das Automobil ist für seine Besitzer in erster Linie ein Prestige-Vehikel, kein Nutzfahrzeug: Die „deutschen Oberklassemodelle, deren Produktion einen wichtigen Teil der Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze sichert, sie werden sich auf der Autobahn aufstauen hinter der rollenden Massenware aus dem Normalverdienersegment: Alltagskleinwagen, die ambitionierte Autohausbetreiber nur widerwillig anpreisen, weil sich daran kaum etwas verdienen lässt. Das ist das Ende jedes Individualismus“, schreibt der Redakteur, der seine Herkunft im sächsischen Dreiländereck verortet. Wo man ohne Auto tatsächlich nur sehr umständlich hinkommt.

Denn auch hier wurde jahrzehntelang vor allem der Straßenausbau für das Automobil vorangetrieben, sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel wurden radikal ausgedünnt oder gleich mal (rechnet sich ja nicht) gestrichen. Dass Steffen so auf den Individualismus abhebt, spricht Bände. Aber ich halte das alles nicht für Individualismus, sondern für Egoismus. Denn auch wenn er so auf die kleineren und preiswerteren Alltagsfahrzeuge schimpft: Das Automobil entscheidet überhaupt nichts in Sachen Individualität. Die hat man nämlich in seiner Persönlichkeit und braucht dazu kein Luxusauto, das den Händler glücklich macht.

Was ist also dran an seiner Behauptung, immer mehr Deutsche würden sich ein Auto zulegen wollen?

Nichts. Wie selbst der ADAC nach einer Umfrage im Juli 2019 feststellen konnte. In zwei Kernthesen stellt er fest, was da tatsächlich gerade passiert: „Die Mobilität wandelt sich in evolutionären Schritten. Die eingeübten Muster verschieben sich nur langsam. Immer mehr Menschen können sich vorstellen, in Zukunft weniger Auto zu fahren. Trotzdem bleibt das Auto absehbar das wichtigste Verkehrsmittel.“

Zu Recht stellt Steffen fest, dass die meisten Autofahrer auf ihr Mobil gar nicht sofort verzichten können, weil sie anders gar nicht zur Arbeit in der Metropole pendeln können. Es gibt für sie derzeit keine Alternativen. Oder mal so von außen gestichelt: Das Thema wurde von den Bundesverkehrsministern in den letzten 30 Jahren gründlich vergeigt. Statt Bahnangebote und kommunalen ÖPNV so zu fördern, dass die Angebote ausgeweitet und massentauglich wurden, wurden sie alle zum Sparen verdonnert. Mit dem Ergebnis, dass ÖPNV auch in den Großstädten zu einem frustrierenden Erlebnis geworden ist.

Ich kann ja die Autofahrer so gut verstehen. Ich möchte auch einfach zur Haltestelle gehen können, vielleicht drei Minuten warten und dann gerade auf den längeren Strecken gern einen Sitzplatz bekommen und möglichst flottes Fahren unterwegs. Wer in Leipzig unterwegs ist, weiß, dass davon selten alles erfüllt ist – das flotte Fahren am allerseltensten.

Und trotzdem bekommt Steffen von uns nur ein Päckchen Taschentücher.

Denn seine These stimmt nicht.

Wie die ADAC-Umfrage bestätigt, ist der Anteil der Befragen, die Auto fahren, seit 2017 stabil, eher leicht im Sinken begriffen, bei nunmehr 65 Prozent aller über 18-Jährigen.

Die, die abtrünnig geworden sind, steigen übrigens nicht auf den ÖPNV um, sondern – wie auch diese Umfrage bestätigt – aufs Fahrrad. Da stieg der Anteil von 18 auf 22 Prozent.

Aber die Umfrage bestätigte auch, dass deutlich mehr Befragte künftig mehr ÖPNV fahren wollen als mehr Pkw (21 zu 18 Prozent) während 21 Prozent weniger Pkw fahren wollen und 15 Prozent weniger ÖPNV.

Die Einschränkung für die ADAC-Umfrage ist natürlich: Da gab es noch kein Corona. Corona hat vieles durcheinandergewirbelt.

2019 aber dominierte eindeutig das Thema Klima. Und das bewegt auch die Autofahrer: 47 Prozent der Befragten sagten, dass das heutige Mobilitätsverhalten der Deutschen eine große Gefahr für Klima und Umwelt bedeutet (gegenüber 38 Prozent im Jahr 2017). Das heißt nun einmal auch, dass viele Autofahrer mit schlechtem Gewissen unterwegs sind. Sie wissen um die Schädlichkeit ihres Verhaltens. Sie sehen aber auch im Alltag, dass sie oft gar keine sinnvolle Alternative haben: 40 Prozent befürworteten 2019 einen Mobilitätswandel (gegenüber 36 Prozent zwei Jahre zuvor.)

Was die Befragten im Verkehr als belastend empfinden. Grafik: ADAC
Was die Befragten im Verkehr als belastend empfinden. Grafik: ADAC

Der Hauptgrund fürs Autofahren ist übrigens Bequemlichkeit, wie die ADAC-Umfrage ergab.

Vor diesem Hintergrund ist es natürlich hochnotpeinlich, sich als Opfer einer veränderten Verkehrspolitik mit Tempo 30 in den Städten (mal so aus Radfahrersicht: Das ist kein Schneckentempo, Herr Steffen!) und 130 maximal auf Autobahnen und neuen Fahrspuren für Radfahrer zu gerieren.

Der ADAC hatte übrigens auch abgefragt, wann Autofahrer auf den ÖPNV umsteigen würden. Sie sehen sehr genau, was am deutschen ÖPNV-Angebot alles nicht stimmt.

Und die Umfrage bestätigt auch, dass in großen Städten das Angebot an ÖPNV von viel mehr Befragten als ausreichend bewertet wird als auf dem Land, wo das nur 11 Prozent sagen. Das ist das Ergebnis von mindestens 30 Jahren knallharter Autopolitik, die den ÖPNV aus der Fläche verdrängt hat und jeden Versuch, etwa mit dem Zug nach Kleinposemuckel zu kommen, zum echten Abenteuer macht.

Über die Stellplatz-Verteilungskämpfe, über die Steffen so wehklagt, muss ich eigentlich kein Wort verlieren. Wer in der Wohngegend, in die er zieht, keinen dauerhaft sicheren Stellplatz hat, sollte vielleicht einfach mal darüber nachdenken, das Stehmobil abzuschaffen und z. B. auf Carsharing umzusteigen.

Ich finde es anmaßend, die eigenen Probleme immer auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Warum sollen wir euch ständig dafür bedauern, dass ihr eure aufgeblasenen Straßenpanzer nirgendwo mehr StVO-gerecht einparken könnt? Kauft euch kleinere Autos, fahrt Fahrrad. Aber tut nicht immer so, als sei zugeparkter Straßenraum ein Menschenrecht. Ist es nicht.

Vielleicht ist es genau der Punkt, der einem dieses Gejammer so schwer erträglich macht: dass diese Leute zwar unbedingt ein spritfressendes Ungeheuer besitzen wollen, aber ständig Vorrechte vor anderen eingeräumt bekommen wollen. Das ist eben kein Individualismus, sondern Egoismus.

Vielleicht hätte Tilman Steffen erst einmal mit seinem Kumpel aus dem Verkehrsressort sprechen sollen.

Denn selbst vor dem Hintergrund der ADAC-Umfrage wirkt Steffens Klage wie hinterm Mond. Nicht die Grünen und auch nicht die Radfahrer sind an seinem Dilemma schuld. Die meisten Befragten sehen sehr wohl, was falschläuft. Es hält sich sogar fast genau die Waage – das Klagen über Parkraummangel und verstopfte Straßen einerseits und die Feststellungen zu den Missständen im ÖPNV.

43 Prozent empfinden das ewige Stehen im Stau längst als Belastung, aber 45 Prozent finden die vollgestopften Bahnen und Busse genauso belastend. Das ist – um es einfach noch einmal zu schreiben – Ergebnis von 30 Jahren falscher, dummer und ignoranter Verkehrspolitik, von egoistischer Pfründenverteilung und der verkehrsministerlichen Unfähigkeit, moderne Mobilität zu gestalten.

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