Es war einer der Hingucker am autofreien Sonntag am 19. September auf dem Leipziger Ring: Vor dem Astoria zeigten Leipziger Mobilitätsanbieter, wie unterschiedlich groß der Flächenbedarf unterschiedlichster Verkehrsarten ist. Und welch enormer Platzgewinn entsteht, wenn sich die Besitzer von Pkw einfach entschließen, ihr privates Auto abzustoßen und dafür auf kollektive Mobilitätsangebote zuzugreifen. In einer Studie zeigen die beteiligten Unternehmen jetzt, wie enorm der Gewinn durch so eine Mobilitätswende in Leipzig sein könnte.

Am 9. November veröffentlichten CleverShuttle, seecon Ingenieure, Verkehrswende Leipzig und teilAuto im Zuge der Aktion Flächengerechtigkeit #FNMLeipzig die Auswertung ihrer Aktion und machen damit deutlich, wie viel Potenzial für eine Stadt wie Leipzig im Abschied von der bislang gelebten Motorisierung liegt.Schon die Fotos vom 19. September machten ja deutlich, dass die riesigen Straßenstrukturen in Leipzig eigentlich nur einen Sinn haben: Den vielen Pkw, in denen oft nur ein Fahrer sitzt, den nötigen Raum zu verschaffen, sich mit PS und eigentlich riesiger Tonnage durch die Stadt bewegen zu können, immer hart an der Grenze zum Stau und dennoch nie am Limit, weil sich die Leipziger/-innen immer mehr Autos kaufen, statt bewusst auf klimafreundlichere Angebote umzusteigen.

Denn Mobilität betrifft uns alle. Tagtäglich bewegen wir uns zur Arbeit oder Schule, zum Einkaufen oder zum Arzt, zum Freizeitsport oder zum nächsten Naherholungsgebiet. Wie wir dahinkommen, bestimmen wir oft anhand der zur Verfügung stehenden Zeit und den entstehenden Kosten. Darüber hinaus haben Komfort und Angebot Einfluss auf unsere Entscheidung. Dabei sind die negativen Folgen unserer Verkehrsmittelwahl oft nicht direkt erkennbar.

„Treibhausgasemissionen heizen das Klima an, Abgase sind eine Gefahr für Mensch und Umwelt, Verkehrslärm und Unfälle gefährden die Gesundheit und der Bedarf an Flächen, Energie und Rohstoffen ist immens groß“, wird das Umweltbundesamt gleich zu Beginn des evidenzbasierten Berichtes zitiert.

Leipzigs Verkehrssystem muss sich ändern

Florian Finkenstein, Geschäftsführer der seecon Ingenieure GmbH, erklärt dazu: „Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen werden die Rufe nach einer Transformation des Verkehrssystems im Personennahverkehr immer lauter. Mit der Aktion #FNMLeipzig sind wir diesen Rufen gefolgt. Mit unserem Knowhow tragen wir zur Diskussion im Leipziger Kontext bei und unterstützen die Stadt Leipzig bei der Erreichung ihrer strategischen Ziele. Unser Bericht fasst dafür die wesentlichen Erkenntnisse zusammen.“

Torsten Bähr, Regionalleiter bei teilAuto: „Die Ergebnisse unserer Auswertung verdeutlichen, dass die Einsparungspotenziale für die Flächenbelegung enorm sind. Am Beispiel unserer Aktion zeigen wir eindrücklich, dass das stationsgebundene Carsharing im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr (MIV) mit Privat-Pkw mehr als 90 % der Flächen des Verkehrs freisetzen kann.“

Timea Rüb, PR-Managerin bei CleverShuttle, geht auf die inzwischen sehr lange Vorgeschichte des geteilten Fahrzeugs ein: „Bereits vor 30 Jahren haben die Stadtwerke Münster verschiedene Verkehrsmittel gegenübergestellt. Neu an unserer Gegenüberstellung ist, dass wir auch die neuen Mobilitätsangebote wie Ridepooling zeigen. In den Bildern konnten wir die Flächeneffizienz von On-Demand-Ridepooling erstmals wirklich greifbar machen: Unsere Ridepooling-Fahrzeuge benötigen nur ein Viertel des Platzes auf Leipzigs Straßen im Gegensatz zum Privat-Pkw. Damit ist Ridepooling eine flexible und platzsparende Alternative zum eigenen Auto, die sich auch wunderbar mit den Verkehrsmitteln des Umweltverbunds kombinieren lässt.“

Nachhaltigkeitsszenario passt nicht zu immer mehr Pkw

Und Daniel Obst von Verkehrswende Leipzig betont: „Jetzt ist es an der Zeit zu handeln und das Nachhaltigkeitsszenario der Mobilitätsstrategie 2030 mit großen Schritten umzusetzen. Mit der Aktion und der Veröffentlichung des Berichtes möchten wir dafür Anregungen liefern.“

Der Platzverbrauch von 60 Pkw-Insassen, 60 Fußgänger/-innen und 60 Radfahrer/-innen. Foto: Frank Lochau
Der Platzverbrauch von 60 Pkw-Insassen, 60 Fußgänger/-innen und 60 Radfahrer/-innen. Foto: Frank Lochau

Dass man für einen echten Vergleich der Verkehrsmittel nicht einfach nur Sitzplätze zählen darf, erläutert der Bericht sehr anschaulich:

„Die Bilder von den vier Verkehrsträgern (Fuß, Rad, Pkw und Bus) sowie das Ridepooling-Bild zeigen die Bewegungsrate und deren Flächenverbrauch. Die Bilder beantworten die Frage, wie viele Verkehrsmittel und wie viel Platz diese Verkehrsmittel in ruhendem Zustand benötigen, um 60 Personen zu einem Zeitpunkt zu bewegen.

Bei Ausweitung der zeitlichen Betrachtung und Erschließung der Potenziale muss Mensch sich von vorhandenen Zahlen lösen. Private Pkw und Fahrräder stehen nur für ihre Besitzer/-innen zur Verfügung. Busse (oder Bahnen und Taxis) im ÖPNV, Carsharing- und Ridepooling-Pkw machen hingegen kaum Pause und transportieren mehrere Personen über einen längeren Zeitraum hinweg.

Das Potenzial dieser Verkehrsmittel ist damit um ein Vielfaches höher. Beispielsweise wurde der mittlere Besetzungsgrad von 37 % (31 Personen) der Busse über alle Fahrten der Linie 74 zwischen 06:00 und 18:00 Uhr (über 12 Stunden hinweg) erfasst. Im Gegensatz dazu sind Privat-Pkw für ca. 23 Stunden pro Tag ungenutzt und stehen somit häufig als ‚Parkzeuge‘ 19 davon am Straßenrand.“

„Die Bilder zeigen, dass mehr als 90 % der durch parkende Privat-Pkw belegten Flächen für eine erhöhte Qualität im öffentlichen Raum für alle, die sich dort aufhalten bzw. bewegen, gewonnen werden können“, heißt es im Fazit des Berichts, der im Grunde auch sichtbar macht, wie konservativ und noch immer von veralteten Mobilitätsvorstellungen die Leipziger Verkehrspolitik dominiert ist. „Notwendige Voraussetzung ist eine nachhaltige Stadt- und Verkehrsplanung, die auf Lebensqualität und das Gemeinwohl im Sinne der Neuen Leipzig Charta21 ausgelegt ist“, heißt es im Bericht.

Ohne Parkraummanagement geht es nicht

Um dann noch deutlicher zu werden: „Neben der Förderung von nachhaltigen Angeboten bzw. deren Skalierung (Pull) muss angemessener Druck auf nicht-nachhaltige Mobilitätsentscheidungen (Push) erfolgen, der auf die strategischen Ziele des Nachhaltigkeitsszenarios der Mobilitätsstrategie 2030 abgestimmt ist. Die Maßnahmenempfehlungen aus dem Nachhaltigkeitsszenario geben dabei die Richtung vor. Im Rahmen einer Push & Pull-Strategie kann bspw. ein konsequentes Parkraummanagement die Subvention des MIV mit kostenfreien öffentlichen Raum reduzieren (Push).“

Was man durchaus auch als leise Kritik an dem lesen kann, was die Leipziger Verkehrsplanung seit dem Stadtratsbeschluss zum nachhaltigen Mobilitätskonzept 2018 praktiziert hat. Denn auch drei Jahre später ist noch nicht wirklich spürbar, dass der Kursschwenk in der Verkehrspolitik überhaupt ernsthaft angegangen wird.

Stattdessen wird über (fehlende) Gelder für den ÖPNV diskutiert, obwohl das Geld auf der Straße steht und andere Städte längst begriffen haben, dass man den wertvollen Parkraum auf der Straße nicht einfach verschenken kann, während zur Finanzierung eines attraktiven ÖPNV das Geld fehlt.

Die Passage im Bericht darf man durchaus als eine Forderung nach einem konsequenten Parkraummanagement in ganz Leipzig lesen – und der Forderung nach sicheren Stellplätzen für Carsharing-Angebote.

„Ein simultanes Ausweiten der Mobilitätsstationen als intermodale Knoten mit Angeboten für Car-, Bike- und E-Rollersharing kann die notwendig erscheinende Bindung an Privat-Pkw verringern (Pull). LeipzigMOVE kann dabei als integriertes Buchungssystem gestärkt und die bedarfsgerechte Nutzung verschiedener Verkehrsmittel vereinfacht werden (Pull).“

Noch immer spielt der MIV die erste Geige

Die Kritik an Leipzigs Verkehrsplanungen wird sogar sehr konkret:

„Werden Bereiche mit Verkehrseinrichtungen neu geplant, ist die Antwort auf die Frage, welchem Verkehrsmittel wie viel Platz zugesprochen wird, weiterhin stark am MIV mit Privat-Pkw orientiert. Wenn darüber hinaus andere Nutzungen, wie schattenspendende Straßenbäume mit Anlagen zur Speicherung, Versickerung und Verdunstung von Regenwasser zur Verbesserung des Mikroklimas, berücksichtigt werden sollen, wird i. d. R. ein Konflikt zwischen Fachbereichen eröffnet.“

„Häufig wird bei entsprechenden Entscheidungen der MIV mit Privat-Pkw priorisiert, um bekannte Planungsansätze mit gewohnten Sicherheiten weiterzuverfolgen. Hier kann es hilfreich sein, den Verkehrsfluss mit temporären Aktionen zu erproben. Die Idee der Pop-up Radwege oder Parkletts, deren Verbreitung in Leipzig bspw. vom Ökolöwen e. V. vorangetrieben werden, können sehr gute Wegweiser sein, um bei zukünftigen Umbaumaßnahmen eine neue Flächenaufteilung zu sichern.“

Natürlich geht es um eine Umverteilung von Fläche. Wer wirklich eine Mobilitätswende will, sperrt sich dagegen eben nicht mit fadenscheinigen Argumenten, wie das aus den Auto-Fraktionen im Stadtrat noch immer passiert. Natürlich ändert sich die Verkehrswelt. Und sie muss sich ändern. Denn Leipzig schafft sonst weder das großspurig angekündigte und kleinkariert angegangene Mobilitätskonzept, noch die ebenso großartig verkündete Klimaneutralität.

Gemeinsam heben die Co-Organisatorinnen zwar hervor, dass es nicht darum geht, das Auto bzw. den motorisierten Individualverkehr (MIV) zu verbannen. Vielmehr setzten sie sich für die zweckdienliche und bedarfsgerechte Nutzung und Kombination verschiedener Verkehrsmittel ein, um mehr Aufenthalts- und Lebensqualität in unsere Straßen zu bekommen.

Aber die Konsequenz ihrer Auswertung ist nun einmal, dass das private Auto ein Auslaufmodell ist und auch die Leipziger Verkehrszukunft von kollektiven Mobilitätsangeboten geprägt sein muss. Und damit auch von einer Solidarität auf der Straße, die es mit der ausufernden Auto-Mobilität von heute einfach nicht mehr gibt.

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