Was treibt einen 17-jährigen Leipziger nach China, um dort ein Mönch im Shaolin-Kloster zu werden? - Die Frage beantwortet der junge Mann, der sich ShanLi nennt, in diesem Buch nicht direkt. 1981 in Leipzig geboren, ging er 1998 nach China, um im berühmten Shaolin-Kloster in der Provinz Henan bei Shi Yan Lu, dem Cheftrainer der Shaolin-Mönche, zu studieren. Mit Erfolg. 2005 entstand die Dokumentation über ihn: "Sieben Jahre Shaolin".

Im Jahr 2007 wurde sein erstes Buch “The Discovery” vom Shaolin Tempel veröffentlicht, 2008 veröffentlichte er dann “The Prohibitionist” im Eigenverlag. “The Gift” ist nun so etwas wie ein ShanLi-Lesebuch. Es versammelt Texte, die er auf Deutsch und auf Englisch geschrieben hat, darunter auch Ausschnitte aus “The Prohibitionist”. Einige kürzere Texte sind sowohl auf Deutsch als auch in Englisch abgedruckt. Darunter auch “The Gift”, das in der deutschen Variante nicht “Das Geschenk” heißt, sondern “Mitleid”: Die Geschichte eines Jungen, der so arm ist, dass er seine Hausaufgaben für die Schule auf den Rücken seines kleinen Bruders schreiben muss.

Es ist eines der kleinen Gleichnisse, die ShanLi augenscheinlich des nachts im Shaolin-Kloster schreibt. “The Prohibitionist” ist hingegen ein fiktionales Buch, das eine Welt schildert, die über die in den 1920er Jahren in den USA verhängte Prohibition von Alkohol deutlich hinausgeht. Ein klein wenig Kritik an der westlichen Zivilisation steckt auch drin, denn der Versuch, den Alkoholverkauf in einem Land wie den USA zu verbieten, erzählt natürlich auch von einer sehr puritanischen Grundlinie, die alle westlichen Gesellschaften durchzieht. Bis heute. Was man als schädlich erkannt hat, versucht man einfach durch Verbot oder Reglementierung aus der Welt zu verbannen.

Was natürlich unmöglich ist in einer Gesellschaft, die den Konsum, die Erfüllbarkeit aller Wünsche und den globalen Handel zu Heiligen Kühen gemacht hat. Mit dem Alkohol ging es ja bekanntlich gründlich in die Hose: Das Verbot sorgte nur für einen triumphalen Siegeszug der Mafia. Und der nächste Versuch einer Prohibition, der auch heute noch mit nicht nachlassender Verbissenheit geführt wird, ist ja der “Kampf” gegen Drogen. Mit dem Ergebnis, dass nicht nur die Mafia mit dem Drogenhandel gewaltige Geschäfte macht.
Dasselbe deutet sich derzeit beim Tabak an, den die westlichen Staaten mit immer teureren Kampagnen versuchen zu verdammen. Es wird genauso schief gehen. Und es gilt der alte Spruch: Falsches Denken führt zu falschen Ergebnissen. Die vom Konsum besessene Gesellschaft braucht den Rausch als Grundzustand und die Sucht als Betäubungsstrategie. Sie müsste sich gründlich ändern, um auch das zu ändern. Was könnte man noch verbieten? – Kaffee und Zucker sind es in ShanLis “The Prohibitionist”. Was nur konsequent ist. Zucker ist aktuell die am häufigsten konsumierte Droge, er wird selbst Produkten beigemengt, in die er eigentlich nicht gehört. Und Kaffee, das weiß jeder, der ein bisschen Geschichte studiert hat, ist hochgefährlich: Er macht – selbst wenn es nur eine Einbildung sein sollte – munter und ist von Anfang an aufs engste mit der europäischen Aufklärung verbunden und allem, was daraus folgte.

Und ganz aus chinesischer Sicht fügt ShanLi noch einen weiteren Versuch der Prohibition hinzu: den der Produktion von Kohlendioxid. Was natürlich anregt, darüber nachzudenken, wie man gewünschte Prozesse tatsächlich vorantreibt – durch Verbote augenscheinlich nicht. Da der Roman aber nur in Auszügen abgedruckt ist, weiß man natürlich nicht, was ShanLi am Ende draus macht. Ob am Ende eine Botschaft der Gelassenheit steht. Wobei die Shaolin-Mönche nicht unbedingt nur für Gelassenheit stehen, sondern auch für die Beherrschung einer der perfektesten Kampfsportarten, in der auch ShanLi inzwischen Meister ist.

Und so klingen auch seine kurzen Sentenzen eher nicht nach einem passiven Weltverständnis. “Wenn du nicht aufgibst, dann kannst du auch nicht verlieren”, ist so ein Spruch. Und das Nicht-Aufgeben lernen die Shaolin-Mönche früh. Ein wenig davon kann man in ShanLis Exzerpt aus “Monks & Beasts” finden, in dem er seine Reise in die Zhongnan-Berge schildert, die in China auch berühmt sind, weil in dieser Bergeinsamkeit – der Legende nach – einst Laozi (Laotse) sein “Daodejing” geschrieben haben soll. Diese Einsamkeit und das Behaupten in der Wildnis zu lernen, ist nun augenscheinlich die Aufgabe der jungen Mönche, die dort als Eremiten leben, sich von den Früchten der Natur ernähren, die Kontemplation suchen und auch wilden Tieren begegnen – Bären zum Beispiel, die sich gleich neben der Mönchsbehausung in einem Pfirsichbaum tummeln.

Dass ShanLi dabei tatsächlich einem “beast” begegnet ist, erfährt er später, denn einer seiner Mönchs-Gefährten ist inzwischen zum Mörder geworden.

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Auch diesen Buchauszug gibt es auf Englisch. Aber nicht nur die Prohibition des Westens beschäftigt ShanLi. Als Sachse in China ist ihm natürlich auch die Begegnung der Kulturen ein Thema. Denn viele Europäer verschlägt es ja wie ihn in das Reich der Mitte, weil sie dort einen Lebenstraum erfüllen wollen. Oder eine Liebe finden. Was nicht immer gut geht. Nachzulesen im Fragment “Im Leichenschauhaus”. Und in der Geschichte “Der Lokus” versucht ShanLi gar, sich in einen dieser umtriebigen Manager zu versetzen, die überall auf der Welt unterwegs sind, um “Beziehungen” zu knüpfen und zu pflegen, und die glauben, die fremde Kultur schon dadurch zu begreifen, dass sie sich entsprechende CDs und Videos reinziehen.

Man erfährt freilich nicht, ob Herr Koepeling mit dieser Methode bei seinen künftigen japanischen Geschäftspartnern scheitert, denn Herr Koepeling scheitert schon auf der Fahrt zu seinem Termin auf einem Lokus an der Autobahn. Keine sehr appetitliche Geschichte, denn sie spielt auch mit den Nöten des Herrn Koepeling, dessen Angst vor den Toiletten auf den Raststätten so groß ist, dass er in seiner Qual sogar einen Ohnmachtsanfall im Auto riskiert. Und da ShanLi das ausgiebig schildert, ist man am Ende dieser Geschichte, als Herr Kopeling in seiner Not die teilweise recht kalligrafischen Inschriften in seiner Kabine studiert, nicht wirklich erleichtert. Den “Karma Virus”, den er hier an der Toilettenwand findet, gibt es dann weiter hinten im Buch wieder auf Englisch. Die Botschaft am Ende: Leider ist es zu spät, die Stadt zu evakuieren. Du musst in die Berge gehen. Allein.

Ob das dann Herrn Koepeling auf die rettende Idee bringt, die ihn aus seiner peinlichen Lage befreit, wird nicht ganz deutlich. Aber darum geht es wohl auch nicht. Denn natürlich ist das im Kern auch wieder eine philosophische Geschichte. Das In-die-Berge-Gehen ist auch ein Bild für die Wege aus genau jenen Zwängen, die Herrn Koepling die ganze Zeit treiben. Es sind seine Selbstbilder, die angenommen Vorstellungen von dem, was richtig ist. Er ist ja schon am Beginn seiner Fahrt damit beschäftigt, sich abzugrenzen. Und als ihm dann auch noch die Sache mit den Samurai erklärt wird und dem Samurai-Denken der modernen japanischen Geschäftsleute, da blüht seine blutige Phantasie so richtig. Herr Koepeling ist ein Mann, der nur noch Perfektion ertragen kann – und Fehler nicht dulden und verzeihen kann. Genau deshalb gefällt ihm auch das Harakiri der alten Samurai so sehr, ohne dass er merkt, dass es eigentlich sein eigener Perfektionswahn ist, der sich hier in exotischen Vorbilder wiederzuerkennen glaubt.

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The Gift – Das Geschenk
Shan Li, fhl Verlag Leipzig 2013, 11,95 Euro

Pech für uns. Wir müssen mit diesen Koepelings leben. Und so gesehen findet vielleicht auch ShanLis Weg von Leipzig ins Shaolin-Kloster eine Erklärung. Es ist sein Weg in die Berge. Und indem er davon erzählt, kann jeder Leser selbst darüber nachdenken, ob er es – wie Herr Koepeling – einfach immer weiter aushalten und mitmachen will. Oder ob er seinen eigenen Weg in die Berge sucht. Und damit am Ende zu sich selbst.

Zu ShanLi auf er Seite des fhl Verlags:
www.fhl-verlag.de

ShanLis Website:
www.shanli.org/de

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