Pünktlich zur Ratsversammlung am 12. Dezember hatte die Oper ihren Wirtschaftsplan für das Jahr 2019 vorgelegt. „Die Oper Leipzig profiliert sich mit ihrem Anspruch auf künstlerische Qualität deutlich als ein Haus von überregionalem Rang“, ist darin als oberstes Ziel zu lesen. Die Neuinszenierung von Georges Bizets „Carmen“ steht dem hehren Ziel, wieder zu den ersten Adressen Deutschlands zählen zu wollen, diametral entgegen.

Lindy Humes Inszenierung steht der Opernprovinz erschreckend näher als den überregional bedeutenden Staatstheatern in München, Berlin oder dem benachbarten Dresden. Selbstgesteckter Anspruch und die Wirklichkeit klaffen in dieser Produktion jedenfalls so weit auseinander wie schon lange nicht mehr.

Die Musik ist nicht das Problem. Liebhaber des französischen Repertoires, das in Leipzig nach dem deutschen und italienischen einen nachrangigen Stellenwert einnimmt, kommen zumindest in dieser Hinsicht auf ihre Kosten. Die Ouvertüre, Klassikmuffeln und Kulturbanausen von Formel-1-Siegerehrungen bekannt, erstrahlt unter Leitung von Matthias Foremny (Hausdirigent, kein Weltstar) im satten Gewandhaussound. Ensemblemitglied Wallis Giunta spielt und singt die Titelpartie energiegeladen, mit Inbrunst, Temperament und Leidenschaft.

Leonardi Caimi (Don José), ein Spezialist des italienischen Fachs, der an großen Häusern zu Hause ist, und Publikumsliebling Olena Tokar (Micaela) stehen dem in nichts nach. Ihr Duett im ersten Akt ist einer der musikalischen Höhepunkte des Abends. Überzeugend ist auch Randall Jakobsh, der dem hinterlistigen Zuniga mit seinem warmen Bass eine verführerische Note verleiht. Foremny führt am Pult souverän durch die Oper. Die Balance passt. Das Orchester glänzt in den großen Tutti-Passagen ebenso wie in den vielen kleineren Ensembles. Nichts anderes ist man gewohnt.

Aber die Inszenierung. Dass die Neuseeländerin Lindy Hume die Handlung in ihrer Zeit belässt und schnöde nacherzählt, sei ihr nicht zum Vorwurf gemacht. Dass sich ihr Konzept im Abspulen aneinandergereihter Tableaus erschöpft, die sich am figurativen Musiktheater inszenieren, schon. Denn das ist hier nichts weiter als alter Wein in neuen Schläuchen. Bekommt der geneigte Opernfreund an jedem Provinzopernhaus zu sehen.

State of the art ist das nicht. Das zeitgenössische Publikum ist anspruchsvoll. Erwartet wird nicht weniger als die kritische Reflexion des Stoffs, eine historische Einordnung, die Bezugnahme auf Gegenwartsthemen. Nicht ohne Grund waren Barrie Koskys Bayreuther „Meistersinger“ bei Publikum und Kritik gleichermaßen erfolgreich. Der anhaltende Erfolg postdramatischer Regisseure wie Romeo Castellucci, Frank Castorf oder Calixto Bieito kommt nicht von ungefähr. Kitschbeladene Achtziger-Revivals schaden der Oper mehr als sie nutzen.

Lindy Humes „Carmen“ spielt im theatralen Mikrokosmos zwischen zwei hohen Theaterwänden, die mal so, mal anders angeordnet werden. Ergänzt wird das Bühnenbild durch eine weitgehend bedeutungsschwangere Treppenkonstruktion, die vornehmlich als zusätzliche Spielebene für die vielen Statisten und Chorsänger dient. Diese Mittel sind weder neu noch besonders unterhaltsam. Die Tableaus sehen auf den Szenenfotos klasse aus, führen auf der Bühne jedoch zu langweiligem Herumgestehe. Würde nicht die Musik spielen, erläge man mühelos der Versuchung, ein Nickerchen einzulegen. Und zwar ohne dass sich das peinliche Gefühl einstellen würde, etwas zu verpassen, was man nicht im Opernführer nachlesen könnte.

Freilich spricht nichts dagegen, das Drama nachzuerzählen. Aber bitte nicht so hölzern! Michiel Dijkema arbeitet traditionell, verzaubert das Publikum und Kritiker ständig auf’s Neue mit witzigen, effektreichen und atmosphärisch dichten Bühneninstallationen, die für sich genommen schon den Opernbesuch wert sind. Neo Rauch und Rosa Loy verlegten den „Lohengrin“ in Bayreuth in eine knuffig-blaue Phantasiewelt, in der sie Elemente des spätromantischen Musiktheaters mit modernen Stilmitteln verbanden. Das Publikum war verzückt. Lindy Humes „Carmen“ wirkt im Vergleich zu solch innovativen Ansätzen wie altbackenes Stadttheater.

Der Oper Leipzig fehlen Must-Seen-Produktionen. Premieren, die das Stadtgespräch bestimmen. Inszenierungen, für die Opernliebhaber Schlange stehen. Dass am Samstag zahlreiche Plätze frei blieben, obwohl „Carmen“ erst das dritte Mal lief, spricht Bände, was den Ruf des Hauses in Leipzig und darüber hinaus angeht. Sieht man von einigen Ausnahmen ab, mangelt es dem Spielplan aktuell an Qualität in der Breite.

Immerhin scheint bei Intendant Ulf Schirmer und Operndirektorin Franziska Severin längst ein Umdenken eingesetzt zu haben. Im März wird besagter Michiel Dijkema den „Fliegenden Holländer“ inszenieren. Das große Bühnenspektakel scheint vorprogrammiert zu sein. Zum Spielzeitauftakt wird Star-Tenor Rolando Villazon, längst einer der gefragtesten Regisseure im komischen Repertoire, Donizettis „Liebestrank“ in Szene setzen. Mit „Tristan und Isolde“ wird Schauspielintendant Enrico Lübbe sein Hausdebüt geben. Ab November 2020 wird in Leipzig Katharina Wagners Inszenierung des „Lohengrin“ zu sehen sein. Eine Koproduktion mit dem international renommierten Gran Teatre del Liceu.

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