Wo sich Leute für Geschichte interessieren, werden auch Spuk und Grusel konserviert. Oscar Wildes Gespenst ist Legende aus Buch oder Film. Wildes Erzählung erschien 1887 und erlebte schon 13 Verfilmungen, fünf Theaterstücke, diverse Hörspiele, zwei Opern, nun noch eine. So weit muss es ein Geist erst mal bringen! Ruggero Leoncavallos "Pagliacci" ist Opernfreunden als "Der Bajazzo" zwar geläufig, doch Leipziger Theaterfans rätselten, wann sie in Leipzig zu sehen gewesen wäre.

Modernes Musiktheater

“Ja, und dann müssen wir endlich mal Zeitgenössisches machen”, hatte Operintendant Ulf Schirmer zu einer früheren Spielzeit-Pressekonferenz gewarnt, als wäre das für das Leipziger Publikum und sein Opernhaus etwas Neues. Ganz neu ist natürlich ein Werk zur Uraufführung, egal wie viel daran neu oder neuartig oder neugierig ist. Für manche hat Karlheinz Stockhausen in Leipzig die Seh- und Hörgewohnheiten so erweitert, dass an der Richter-Skala gemessen werden kann.

Old England

Wenn der Vorhang aufgeht sieht es aus, wie man es sich für Oscar Wildes Story vorstellt. Hinterm Friedhof steht eine Villa, sieht aus wie im Leipziger Musikviertel, und wenn deren Stoff-Fassade entschwindet, gucken wir in die beiden Etagen hinein. Wie ein Puppenhaus ist die Wohnung ausgestattet, Möbel und Requisiten sind aufgebaut und gehen fotorealistisch an der Wand weiter. Und schon kommt das Gespenst aus dem Schrank und macht sich fertig zum Dienst. Mit den zwölf Null-Uhr-Glockenschlägen kommt es nämlich aus der Standuhr heraus, und wenn die nur 11 Mal geschlagen hat, wird sie getreten, und schon kommt der Gong aus dem Orchestergraben. Ist das englischer Humor?

Wie William Shakespeare ist der Poltergeist angezogen, zumindest so, wie man ihn gesehen zu haben glaubt, oder wie man sich ihn vorstellt. Erinnerungen an den Geist von Hamlets Vater werden wach, bevor der Gespenster-Darsteller noch wie Hamlet den Totenkopf des einstigen Narren zur Hand nimmt…

Leben lassen. Auch Geister sind Künstler! Meint Oscar Wilde. Foto: Kirsten Nijhof
Leben lassen. Auch Geister sind Künstler! Meint Oscar Wilde. Foto: Kirsten Nijhof

Extrakt für Leib und Seele

Angeblich kann er so schlimm lachen, dass einem früheren Hausbewohner “schon über Nacht die Perücke grau geworden ist.” Doch die neuen Bewohner, abenteuerlustige Amerikaner, erkennen Gespenst und Grusel als Event. Nachts lauern sie dem Gespenst auf, mit Kissenschlacht und Wassereimer, bieten ihm Schmieröl zur Pflege der Ketten und Extrakt für Leib und Seele. Als Künstler hat er nämlich vorsichtig zu leben, das sei er dem Publikum schuldig. So heißt es im Text.

Bedenklich wird es, als der Blutfleck auf der Rüstung nicht mehr erscheint… War doch gar nicht so schlimm, dass die Dame des Hauses bei den Malutensilien Rot- und Gelbtöne vermisste, keine Sonnenuntergänge mehr malen konnte, sondern auf Mond-Stimmungen ausweichen musste…

Neues auf alt gemacht

Gordon Getty, der schon früher in München auf Ulf Schirmer traf, hat die Musik geschaffen, die Oper Leipzig hilft uns mit ihrer Gebrauchsanweisung bei der Einordnung in eine “naturalistisch-illustrative Musik, die die romantische Musik und Literatur des 19. Jahrhunderts wieder aufleben lässt.” Auch solche Zitate muss man mit spöttischer Liebe zur Nostalgie pflegen.

Zwar in anderen Genres, aber die musikalischen Welten von Robert Kreis und Max Raabe, oder einst der DDR-TV-kammersinfonische Jazz von Günter Gollaschs “Onkel Stanislaus und seine Jazz-Opas”, die wahrlich einer Wiedererweckung wert wären, ist große Kunst nach Kunst. Adaptionen und Featurings in der Musik sind Erfolg, billardgleich über zwei Banden gespielt, oder sie sind bald wieder vergessen.

Zu bestaunen gibt es ja an diesem Opernabend genug, wie viel Text nämlich für Freunde der englischen Sprache nötig gewesen ist, Deutsch flimmert es in der Übertitelung am Portal. Beim Mitlesen der Übertitel hat man Bedenken, dass die Sänger das auch durchatmen können. – Sie können es.

Englischer Spuk mit internationalem Cast

Wenn es im Premierenpublikum öfters kicherte, galt das wohl meist den Gespenstereien. Opernintendant Ulf Schirmer, wird auf dem hauseigenen Papier zitiert mit dem Satz: “Ich habe einige Erfahrung mit der Musik von Gordon Getty und weiß, dass bei seiner Musik der Funke auf das Publikum überspringt. Seine Musik wirkt direkt.” Am Premierenabend saß Ulf Schirmer in der Loge, Mathias Foremny, in Münster gebürtig, dirigierte beide Opern. Anthony Pilavachi, auf Zypern geborener irischer Staatsbürger, hat zwei ganz und gar unterschiedliche Räume auf die Bühne bauen lassen, Tatjana Ivschina, im usbekischen Taschkent geboren, schwelgt in Stoffballen, Faltenwürfen und Zierat bei beiden Werken, jeweils im Stil der altenglischen Schlossbehausung oder des kalabrischen Dorfes. Ordnet sich in der Gespenster-Posse alles dem Geist im englischen Gemäuer unter, sei stellvertretend für alle der Sänger-Darsteller Matthew Trevino erwähnt, der in Texas Gesang studiert hat.

Schon zu Beginn des Abends stifteten Leoncavallos Super-Musik-Motiv und der Prolog Verwirrung, wollten sich aber für beide Programmteile verstanden wissen. So ging es nach dem Leoncavallo-Drive englisch steif und brav weiter zum Mitternachtsspuk zu… Bis hin zum hymnengleichen Ausklang “…Peace come to Canterville.”

Man stelle sich ernstes- oder spaßeshalber mal vor, wie Oscar Wildes Story zum Dungeon-, Universal-Studio- oder Disney-Mitfahr-Event aufgedreht und aufgedonnert werden könnte…!

Commedia in Kalabrien. Doch auch Komödianten kennen Liebe, Sorgen, Hass und Rache... Foto: Kirsten Nijhof
Commedia in Kalabrien. Doch auch Komödianten kennen Liebe, Sorgen, Hass und Rache… Foto: Kirsten Nijhof

Italienisches Temperament

Während der Pause ist der eiserne Vorhang geschlossen und zeigt, dass auch dieses Bauteil in seinen Strukturen, Gelb- und Goldtönen zur Architektur des Saales passt. Man sieht dieses Gerät sonst selten. Weder wegen technischer Notwendigkeit noch künstlerischer Idee. Fahren nun zwei Drittel des Eisernen nach oben und versinkt ein Drittel zwischen Saal und Orchestergraben, blicken wir in einen Hof, vorgeblich Hauptplatz eines kalabrischen Dorfes, nüchternes, fensterloses Grau bis zum Himmel, drei Zugänge. So grau, so grauenhaft für Fantasie oder gar Kunst. Und hier soll die Commedia brillieren!

Zwei Bühnenbilder, zwei Sounds

Aus der Commedia um Ehebruch wird ernst werden, in einer Zeit, in der man mit dem Moped auf den Marktplatz rollt, auf dem sich schon Chor und Kinderchor zum Dorfvolk gemausert und gesungen haben. Seltsam und ruckweise wird es mal heller und mal dunkler auf diesem Marktplatz.

Teil Zwei sieht anders aus und klingt anders. Akustisch ist das Bühnenbild ein schönes Musikzimmer, das Sound und Drive des Gewandhausorchesters aus dem Orchestergraben mit dem Feuer der Stimmen mischt. Ein Fest für Rollen und Partien: Canio: Raymond Very / Nedda: Marika Schönberg / Tonio: Anooshah Golesorkhi / Beppo: Dan Karlström, sonst in Leipzig der mütterlich-bizarre und listige Mime im “Siegfried” / Silvio: Jonathan Michie.

Freilich sieht der Bajazoo anfangs aus wie Charlie Chaplin, als ob Spaß im Ernst hier noch ein Kostüm-Symbol mehr bräuchten, als es die Commedia-Historie mitbringt. Ein Beitrag fürs Charlie-Chaplin-Museum, Abteilung: Oper!, ist es aber schon…

Hier gibt’s auch die guten Geister! Eine Dame mit Sonnenbrille sitzt graziös auf ihrem Stuhl wie die Musen-Skulptur eines Denkmals, daneben die Souffleuse der Commedia-Truppe, dienstbeflissen, nachdem sie ihre Brot-Mahlzeit samt Banane und Getränk aus der Thermosflasche verspeist hat. Im Bühnen-Spiel jagen sich die Darsteller im Lebens-Drama, kommen von der Rampe herunter und der Mord geschieht im Saal vor der ersten Parkett-Reihe…

Zwei Stücke um Gespenster und Geist, Glaube und Macht, Aberglaube und Aufklärung, Hass, Verachtung und Rache, Leben und leben lassen. In beiden Episoden geht es unaufdringlich aber existenziell um Kunst und Künstler und Leute, die so was in ihrem Leben brauchen.

Weisheit und Posse

Will man über Theater schreiben hat man, nach Jerzy Wittlins Definition des Rezensenten, die Wahl zwischen Nacherzähler, Weisheitspächter, Possenreißer und einem Mischling davon.

Was aber tun, wenn aus der Oper Leipzig schon die ultimative Gebrauchsanweisung aus Papier mitgeliefert wird: “Von der Kunst, das Weinen vom Lachen zu trennen” sowie “Von der Kunst, ein erfolgreiches Gespenst zu sein”.

Scheuen wir uns nicht, als Mischling zu gelten mit den Ansichten:  Nummer 1: Ob das Gespenst erfolgreich ist, steht noch aus. Nummer 2: Wird diese Art von Ernst nur ausgelacht? Und auch hier darf Kunst alles.

Zum Premierenabend gab es im vollbesetzten Haus lange Applaus.

Zweiteiliger Abend: Nach der Grusel-Oper gibt's einen Evergreeen für starke Stimmen. Foto: Kirsten Nijhof
Zweiteiliger Abend: Nach der Grusel-Oper gibt’s einen Evergreen für starke Stimmen. Foto: Kirsten Nijhof

Achtung: Warnung vor Nachahmung!

Im Januar 2005 ist in Meran eine Polin zu einer Haftstrafe von vier Monaten wegen Belästigung verurteilt worden. Die 42-Jährige hatte die Bewohner eines alten Schlosses in Südtirol über Wochen in Angst und Schrecken versetzt, als sie nachts mysteriöse Geräusche produzierte. Mit Hilfe von Videokameras kam die Polizei der Täterin auf die Schliche.  (Quelle: Pressemeldung vom 17.01.2005)

Geisterhafter Jugendschutz

Was müssen in Leipzigs Oper für seltsame Geister umgehen, wenn für den Abend die Altersempfehlung “Für Jugendliche ab 16 Jahren” gegeben wird? In Dresden darf man das Gespenster-Schauspiel schon mit zehn Jahren kennenlernen.

Geister im Geist Oscar Wildes

Im aktuellen Geschehen um Sprache und Begriffe ergeben sich Fragen für den wissenschaftlichen Diskurs: Welches Geschlecht haben Gespenster? Wenn es Weiße Frauen gibt, kann man dann auch von Gespensterinnen oder Gespenstinnen sprechen? Den Milchmädchen wurden ja auch Milchburschen zugestanden, den Brummochsen Brummöchsinnen gewährt…

Meinungen:

“Bin beim ‚Gespenst von Canterville’ fast eingeschlafen, so langweilig war das … – … da hat dann der ‚Bajazzo’  einiges wieder “rausgeholt” … – “Das wäre ja vielleicht Stoff für ein Musical, aber doch nicht für eine Oper!” – “Warum sind die Amerikaner genau so angezogen wie die Engländer? Das hat es ja gegeben, dass die Amerikaner in England alte Häuser kauften und dann die Gespenster wieder mit in die Staaten genommen haben …”

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar