Patrick Zschocher ist nicht nur Verleger, er schreibt auch selbst. Nicht immer unter eigenem Namen. Fünf Romane sind es schon. Oder sechs. Das weiß er selbst nicht mehr genau. Denn seit er seit 2010 seine zwei Verlage betreibt, hat er auch noch eifrig die Texte seiner Autorinnen und Autoren feingeschliffen, damit sie am Ende ein lesbares Buch ergaben.

In einem Verlag, der sich ganz bewusst Einbuch-Verlag nennt, kann man sich ausprobieren, kann man auch einmal Texte veröffentlichen, die weitab vom belletristischen Mainstream liegen. Zum Beispiel ein Roadmovie, das in einer Zeit handelt, als man in Leipzig noch königlich wohnen konnte.

Also irgendwann Ende der 1990er Jahre, als die Stadt über 100.000 Einwohner verloren hatte, die dem Geld und der Arbeit in den Westen gefolgt waren. Und als in Ortsteilen wie Lindenau und Plagwitz die Wohnungen für ein Spottgeld noch zu mieten waren.

Selbst Arbeitslose also für wenig Geld auf großem Fuß leben konnten. So wie der Held dieser Geschichte, Lennard, der seine Tage damit verbringt, durch die neuen Einkaufspassagen zu streunen. Bei einer dieser Gelegenheiten lernt er Susan kennen, die junge Dame, die im opulent barocken Buchtitel als „meine Freundin“ auftaucht.

Es ist eine Geschichte zwischen den Zeiten. Alles ist möglich. Zugleich erleben Menschen wie Lennard, dass erst einmal gar nichts möglich ist. Und Susan weiß auch nicht wirklich, was sie eigentlich aus ihrem Leben machen soll. Studieren – aber was? Es ist ein Zustand, den auch die jungen Menschen von heute kennen. Nur dass die Wohnungen inzwischen rar und schweineteuer geworden sind. Und jede Entscheidung die falsche sein kann in einer Welt, in der selbst die scheinbar Erwachsenen nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen mit dieser Welt.

Aber das ist dann Thema für andere Romane. Gern so durchgeknallt wie des Urbild aller durchgeknallten Roadmovies „On the Road“ von Jack Kerouac.

Träume vom Meer

Nur dass Lennard auch kein Auto besitzt. Dass es ihn überhaupt auf die Landstraße verschlägt, das hat im Grunde Paul zu verantworten, der Mann von Susans Schwester Regine. Er hat gerade seine gut gehende Agentur verkauft, weiß aber auf einmal nichts mit seiner Zeit anzufangen. Irgendwie wegfahren, das wäre eine Idee.

Aber wohin? Ganz bestimmt nicht an einen dieser überlaufenen Urlauberorte an der Mittelmeerküste. Da ist es am Ende Lennard, der das große Meer ins Spiel bringt, den Atlantik, den auch er noch nie gesehen hat. Das ist ein Ziel. Und so quetschen sich alle vier in Pauls alten Kombi und brechen auf Richtung Westen.

Am Ende haben sie selbst von den gebührenpflichtigen Autobahnen die Nase voll, weichen auf eine kaum befahrene Landstraße aus und landen mitten im Nirwana, wo der Motor des Autos mit großem Knall seinen Geist aufgibt. Eigentlich Stoff genug für eine Robinsonade. Denn hier kommt stundenlang niemand vorbei. Und als dann jemand kommt, ist es ein alter Mann mit einem Eselsgespann.

Die vier sind ganz offensichtlich in einer Ecke Europas gelandet, in der man richtig verloren gehen kann. Solche Ecken gibt es zum Glück auch heute noch. Auch wenn man nicht unbedingt – wie diese vier – darauf rechnen kann, dass man von einem alten Mann gastlich aufgenommen wird.

Das Meer bekommen am Ende nur zwei von ihnen zu sehen. Denn schnell stellt sich heraus – wie das immer so ist – dass sie alle ihre ungelösten Probleme von daheim mitgeschleppt haben. Man kann zwar aus einer Stadt flüchten, die einem auf den Keks geht. Aber man entkommt sich selbst und seinen unabgegoltenen Geschichten nicht. Ganz zu schweigen davon, dass auch die beiden Schwestern noch so einiges aus der gemeinsamen Vergangenheit abzuarbeiten haben.

Im Uhrwerk

Da kommt die Einsamkeit gerade recht, in der sich die Vier einrichten müssen. Recht einfach, ohne fließendes Wasser und Strom. Nahebei ist ein Wäldchen mit einem Fluss, in dem Lennard Fische fangen kann. Aber auch Lennard kommt nicht wirklich aus seiner Haut. Manchmal ist er kurz entschlossen und zieht einfach los, wo Paul und Regine noch ihre Bedenken wälzen.

Aber im Grunde weiß er selbst nicht, was er will. Und reflektiert darüber genauso ausgiebig wie über das Verhalten der anderen Drei. Denn eigentlich fühlt er sich so ganz zufrieden – seine Liebste ist ja da. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln ist gesichert. Man könnte also eigentlich so richtig die Seele baumeln lassen. Wäre da nicht die Unruhe, die gerade Paul und Regine immer wieder spüren lassen.

Denn wie das so ist mit Flüchtlingen aus der mitteldeutschen Zivilisation: Eigentlich halten sie es nicht aus, wenn sie irgendwo stranden, ohne zu wissen, wann sie da wieder wegkommen. Im Grunde sind wir alle so programmiert, dass wir geborene Pauschaltouristen sind – mit klar geregelten Ankunfts- und Abfahrtzeiten, Flughafenzubringern und der am Horizont schon wieder winkenden Arbeit.

Nicht einmal im Urlaub kommen wir raus aus dieser Mühle. Und natürlich endet dieses Roadmovie so, wie es enden muss. Denn während Lennard das Völlig-aus-der-Welt-gefallen-Sein genießt, warten die Anderen eigentlich nur auf den Tag, an dem sie aus ihrem Gestrandetsein wieder erlöst werden.

Während Lennard mal wieder irgendwie im Dazwischen hängt, weil er mit allen Fasern spürt, dass es eine „große, einzigartige und wundersame Welt“ ist, die er nun wieder verlassen muss. Ein kurzes Glück, das man tatsächlich nur erfährt, wenn man ungeplant irgendwo im Draußen landet und sich tatsächlich einrichtet, weil man nicht weiß, wann man zurückmuss in die genormte Welt.

Das Glück der Hamster im Laufrad

Natürlich wird das so manch braven Leser frustrieren, weil es eine Geschichte ist, die gegen unser eingeübtes Funktionieren anerzählt. Und gegen eine politische Gegenwart, in der auch Arbeitslose zu funktionieren haben und von grimmigen Politikern regelrecht getrieben werden, sich wie Hamster im Laufrad zu bewegen. Und so ist das, was Patrick Zschocher erzählt, eben auch die Geschichte einer Niederlage, wie wir sie alle tagtäglich erleben – oder eben spätestes im Urlaub, wenn wir merken, dass uns das eingebaute Metronom niemals ruhen lässt. Und wir in Gedanken längst schon wieder zurück im Uhrwerk sind, wenn wir scheinbar noch völlig gelassen am Strand liegen.

Man spürt, wie schwer es gerade Lennard fällt, den Gedanken auch nur zuzulassen, dass die Zeit im Draußen abgelaufen ist. Und auch er nicht die Kraft hat, einfach loszulassen und nicht zurückzukehren. Es ist eine Geschichte nur scheinbar aus einer vergangenen Zeit. Auch wenn die Zeit der „billigen sozialistischen Wohnungen“ inzwischen auch in Plagwitz vorbei ist. Und Lennard vielleicht nur das Glück hatte, dass er diese Susan behalten hat, die ihm zumindest in der Unabhängigkeit des Denkens verwandt ist.

Und das will schon etwas heißen in einer Welt, in der einem lauter verkniffene Gesichter jeden Tag einbläuen, dass man zu spuren und zu funktionieren hat. Sonst gibt es nämlich nichts. Nicht einmal das Gefühl, dass man ein Recht hat, in dieser Welt ein bisschen glücklich zu sein.

Patrick Zschocher „Meine große billige sozialistische Wohnung, meine tolle neue Freundin, ich, ein alter Kombi und die zwei anderen aus Plagwitz“, Einbuch Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2025, 21 Euro.

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