Am Freitag ist Buchpremiere. Doppelte Buchpremiere. Denn es ist auch das erste Buch der 22-jährigen Anne Mehlhorn aus Aue, das im "Shakunda" (Karl-Liebknecht-Straße 102) Premiere feiert. Der Ort ist quasi "gleich um die Ecke" für sie. Denn seit 2011 studiert Anne Mehlhorn Verlagsmanagement an der HTWK. Was auch Türen öffnet. Zum Beispiel zum fhl Verlag, der ihr Mut machte. Denn das mit dem Romaneschreiben ist nicht ganz so einfach, wie es manchmal aussieht. Erst recht, wenn es um Stachelschweine geht. Schopenhauersche Stachelschweine.

Was schon mal ein Achtungszeichen ist. Die junge Dame hat nicht nur mit 17 Jahren ihren ersten abgeschlossenen Roman verfasst (zumindest lässt sie das in ihrer Kurzbiografie verraten), sie scheint auch eifrig Bücher zu lesen, die Mädchen in der Regel nicht anfassen – und in ihrem Alter schon gar nicht. In diesem Fall: Schopenhauers “Parerga und Paralipomena”, eine Sammlung von Aphorismen zur Lebensweisheit. Auch die ein oder andere Parabel ist drin. Wie die mit den Stachelschweinen, die bei Kälte versuchen, sich aneinander zu kuscheln, sich dabei aber mit ihren Stacheln spießen, also wieder auseinander rutschen, bis die Kälte sie wieder zueinander drängt. Wissenschaftlich wahrscheinlich so nicht belegbar, aber ein schönes Bild. Wie immer – für eine andere Spezies Lebewesen: die Menschen.

“Parerga und Paralipomena”, erschienen 1851. Und wer einmal einen Schopenhauer-Band in die Hand nimmt, merkt es selbst, wovon dieser Berliner Philosoph da eigentlich die ganze Zeit redet – zumeist in bissigem Widerspruch zum Super-Philosophen seiner Zeit: Hegel, der seine Katheder-Bemühungen dazu nutzte, nun ausgerechnet den preußischen Staat zur besten aller Staatswelten zu verklären. Nicht einmal ahnend, dass in den alten Konstrukten etwas Neues, zutiefst Verstörendes heranreifte. Schopenhauer spürte es. Sein ganzes Werk ist ein einziges Unbehagen an der neuen, sehr ungemütlichen Kultur.Und es macht ein Thema deutlich, das heute noch viel aktueller ist: Die zunehmende Versagensangst der Menschen, die sich in einer anwachsenden Menschenscheu versteckt – oft klassifiziert als Bindungsangst, sozialer Vereinsamung. Und das betrifft eben nicht nur alte Knasterbärte wie Schopenhauer, der 1851 schon 63 Jahre alt war, sondern auch und zunehmend junge Menschen. Denn was passiert, wenn jeder, aber auch jeder Lebensbereich einer Gesellschaft dem Wettbewerbsdiktat unterworfen wird? Was stellt das am Ende mit Beziehungen, Liebe, Freundschaften an? – Nichts Gutes.

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Bei Cassandra, der 17-jährigen Heldin dieses Buches, kommt noch eine traumatische Kindheitserfahrung hinzu, die sicher in anderen familiären Strukturen anders aufgefangen worden wäre. Aber sie verlor ihre ganze kleine Familie – ein tragischer Moment reicht dazu aus. Was vor ihr liegt, ist eine sicher recht typische Karriere eines Waisenkindes, das zwar in staatlicher Obhut aufwächst, fortan aber seine ganze Selbststärke auch in einem robusten Auftreten gegen andere gewinnen und bewahren muss. Das Selbstzerstörerische hat seine eigenen Abläufe und Kurzschlüsse.

Aber es ist ja ein Buch über Stachelschweine. Ganz sicher werden sich auch andere Jugendliche in dieser Cassandra wiederentdecken. Und vielleicht – wenn sie so ein Buch in die Hand bekommen – auch manche jüngeren Männer, die mit sich, ihrer Karriere, ihren Wünschen und ihren sozialen Kompetenzen hadern. Bei Noel steckt zwar der große geplatzte Traum einer Laufbahn als Astronaut dahinter. Er scheint ein kleines Genie zu sein, gerade in Sachen Astronomie. Aber während unsere Gesellschaft allerlei Zeremonien kennt, das Genie zu feiern, wenn es “den Durchbruch geschafft” hat, fehlen sämtliche Auffangnetze für all jene, die kurz vor Erfüllung ihrer Wünsche scheiterten.Und mancher stürzt sich dann, wie Noel, in das Nächstbeste – er beginnt fast widerwillig, eine Doktorarbeit zu schreiben. Seine einzige Leidenschaft ist die Beobachtung des Sternenhimmels. Aber woher nimmt er einen neuen Sinn für sein Leben? Ist es nicht besser, einfach einen glanzlosen Schlusspunkt zu setzen?

Natürlich lässt Anne Mehlhorn den Zufall walten, um ihre beiden Stachelschweine zueinander zu bringen und in einem recht stacheligen Roadmovie einfach aufbrechen zu lassen hinauf zum Polarkreis, um nur einmal die Polarlichter zu sehen, bevor ein gewaltiger Meteor auf die Erde stürzt und eine Riesenflutwelle die Küsten ersäuft. Sie gehen dabei durchaus aufs Ganze und sind natürlich gezwungen, die Sache mit der stacheligen Annäherung zu probieren. Da und dort spürt man noch, dass es für die Autorin eine faszinierende Versuchsanordnung war. Da musste auch der Verlag noch ein bisschen beim Polieren helfen.

Aber es ist – wie so oft bei solchen Road-Movies – ein spannendes Experiment. Zuweilen recht gedankenschwer. Was folgerichtig ist. Eine Gesellschaft, die sowieso ihre Schwierigkeiten mit der Kommunikation hat (man redet viel, sagt aber nichts), kommt zwangsläufig zum inneren Monolog. Ein wenig ist das wie der Nachklang der klassischen Oper, in der auf der Bühne nicht agiert wurde, bis die Fetzen flogen, sondern die psychologischen Veränderungen im Beziehungsgeflecht durch allerlei Arien erläutert wurden. Das ist im 19. Jahrhundert so auch in den Roman gewandert. Und dort noch immer lebendig.

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Die Seele des Stachelschweins
Anne Mehlhorn, fhl Verlag Leipzig 2013, 11,95 Euro

Was wiederum passt, wenn man so an unsere Gesellschaft der Stachelschweine denkt. Nähe kann weh tun und tief verletzen. Also flüchtet man. In Einsamkeit, Arbeit, Coolness. Oder weg dahin, wo es vielleicht nicht ganz so frustrierend ist. In den romantischen Süden oder in den faszinierenden Norden, wo Großvater seine Weltkriegserlebnisse hatte und das Polarlicht sah. Und wenn sowieso die Welt untergeht, braucht man sich um das Morgen auch keine Gedanken mehr zu machen. Raus aus dem Laufrad, die blöde Doktorarbeit eben doch nicht mehr schreiben und fantasielosen Studenten nicht mehr sagen müssen, dass sie im falschen Fach gelandet sind.

Dass sich zwei da finden, irgendwie, das ist das Romantische an der Geschichte. Und die Hoffnung. Davon leben ja Romane, dass es immer noch eine andere mögliche Variante der Geschichte gibt. Ob diese Lösung in der Ferne liegt, wer weiß das schon? Nur eins ist sicher: Wer nicht losfährt, wird es nie erfahren.

Veranstaltungstipp: Buchpremiere für “Die Seele des Stachelschweins” ist am Freitag, 19. Juli, 20 Uhr im “Shakunda” in der Karl-Liebknecht-Straße 102.

Die Schopenhauer-Parabel bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Stachelschweine_%28Parabel%29

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