Die Kritik an vielen Wegen der EU und des Parlamentes reißt nicht ab. Im Vorfeld der Europa-Wahlen vom 22. bis 25. Mai erst recht nicht. Zu bürokratisch, zu weit weg von den Bürgern und ein scheinbar machtloses Parlament sind in vielen Debatten die Beschreibungen Europas. Vor allem die Hinterzimmerpolitik und der Einfluss mächtiger Lobbyverbände bei Verhandlungen rings um ACTA und nun auch TTIP lassen so manchen Wähler abwinken. Hilft doch nix, das Parlament hat ja nichts zu sagen. Keine leichten Zeiten für Europaparlamentarier wie Reinhard Bütikofer (B90/Die Grünen), wenn sie für den gemeinsamen europäischen Weg einstehen und zur Wahl trommeln.

Am 25. Mai ist es soweit. Die Europawahlen stehen an. Können Sie mir und den Lesern erklären, warum wir wählen gehen sollen?

Zunächst einmal: Die Idee der Demokratie ist gegründet auf die Vorstellung, dass die Bürger nicht nur Konsumenten von Politik sind, sondern sich an politischen Entscheidungen beteiligen. Dazu gehören eben auch Wahlen. Konkret bezogen auf diese Europawahl würde ich darauf verweisen, dass dem Europäischen Parlament, deutlich navchvollziehbar zum Beispiel bei Verbraucherschutzfragen, immer mehr Einfluss zugewachsen ist. Durch diesen Bedeutungsgewinn, den das Parlament erfährt, wird immer wichtiger, wer im Parlament Mehrheiten bildet. Und schließlich geht es bei dieser Wahl auch darum, ob man an der europäischen Idee festhält, oder ob die Kräfte stark werden, die die Rückkehr zu den Götzen des Nationalismus predigen. Meiner Meinung nach genug Gründe wählen zu gehen.

Wie viel verdienen sie als EU-Abgeordneter?

Ich verdiene so viel wie ein Bundestagsabgeordneter.

Das EU-Parlament kommt einem aus der Ferne und durch die fehlenden Möglichkeiten der Gesetzesinitiativen -einbringungen eher vor wie ein Abnickparlament. Können Sie beschreiben, wie die tägliche Arbeit im Parlament vonstatten geht?

Das Etikett Abnickparlament ist völlig aus der Luft gegriffen und jenseits jeder Kenntnis. Um zu provozieren: Das europäische Parlament hat mehr Bedeutung und Gestaltungskraft als die französische Nationalversammlung. Wir haben im Interesse der Bürgerinnen und Bürger das internationale Abkommen über Produktpiraterie ACTA im Parlament abgelehnt wie auch die erste Verabredung der EU-Länder mit den USA über den Austausch von Bankdaten. Es gibt keinen internationalen EU-Vertrag mehr, der nicht zuvor die Zustimmung des europäischen Parlaments gefunden hat.

Das EU-Parlament ist Mitgesetzgeber, es entscheidet mit über den Haushalt, es wird den Präsidenten der europäischen Kommission wählen und ihn nicht nur wie früher bestätigen. Mein Rhythmus besteht aus 42 Sitzungswochen pro Jahr, von denen wir zwölf in Straßburg verbringen. Dort gibt es Plenardebatten und -abstimmungen.

In der Regel beginnt ein Tag in den Plenarwochen morgens um neun und endet abends mal gegen zehn, mal gegen zwölf Uhr. Das ist aber nur ein Teil der Tätigkeit. Sehr viel läuft im Rahmen der Arbeit der Ausschüsse. Ich bin Mitglied des Ausschusses für Industrie, Technologie, Energie und Forschung. Als ich zum Beispiel für die Rohstoffpolitik Berichterstatter war, hatte ich das Privileg einen Beschluss-Vorschlag zu formulieren, den am Ende das Plenum des Parlaments annahm. Ich musste den so fassen, dass meine Position erkennbar blieb und es gleichzeitig möglich war eine Mehrheit dahinter zu versammeln.

Dafür bedarf es vieler Gespräche mit Kollegen, mit der Verwaltung, mit Lobbyverbänden und Umweltgruppen. Und drittens gehört zu meiner Arbeit auch immer der Versuch, europäische Politik bei den Bürgerinnen und Bürgern sichtbar zu machen. Dafür bleibt vielleicht der kleinste Teil der Zeit und darin liegt ein großes Problem.

Worin sehen Sie die Angst der EU-Skeptiker begründet?

Ich zögere der Annahme zuzustimmen, dass es sich einfach um Angst handelt. Sicherlich gibt es auch Leute die Angst haben. Es ist wahrscheinlich eine conditio humana, Angst zu haben. Aber die Ideologen des Nationalismus haben keine Angst, sondern Ressentiments und Hass. Diese Ressentiments resultieren nicht aus aktuellen Entwicklungen, sondern sind steinalt. Dass sie durch die aktuellen Entwicklungen ein wenig Wind unter die Flügel bekommen, hängt damit zusammen, dass die EU manche Hoffnungen, die wir alle in sie gesetzt haben, in der Krise enttäuscht hat. Wir haben ein weitgehend friedliches und einiges Europa, aber der soziale und wirtschaftliche Fortschritt in Europa ist sehr ungleich verteilt. Dass anhand solcher Tatsachen Populisten versuchen politischen Profit zu schlagen, ist keine neue Erfahrung.

Deshalb kann es jetzt aber auch nicht nur darum gehen, diese Kritiker zu entlarven oder zu denunzieren; wir müssen das angehen, was in Europa schiefläuft. Europa in Sonntagsreden zu predigen und ansonsten technokratische Scheinlösungen für reale soziale Probleme zu bieten, ist kontraproduktiv, hilft gegen Populisten nicht.

Brauchen wir eine genuin europäische Identität und wie kann sich die mit den nationalen Heiligtümern vertragen?

Ich denke, es entwickelt sich allmählich so etwas wie eine europäische Identität. Das merkt man am deutlichsten, wenn man außerhalb von Europa unterwegs ist. Nichtsdestotrotz muss man auch weiterhin die Vielfalt der Nationen und Regionen sehr bewusst als Chance und Reichtum wahr- und ernstnehmen.

Wie würden Sie die Machtverteilung zwischen EU-Parlament und den EU-Kommissaren beschreiben?

Die Machtverteilung zwischen Parlament und Kommissaren ist im Wandel. Das Parlament ist durch den Vertrag von Lissabon, sozusagen die aktuell gültige europäische Verfassung, sehr gestärkt wurden. Die Kommissare kommen nur ins Amt, wenn sie das Vertrauen des Parlaments haben. Generell ist die Stellung der Kommissare in den letzten fünf Jahren auch dadurch schwächer geworden, dass der Präsident der europäischen Kommission mehr Macht zentralisiert hat. Insgesamt würde ich sagen, dass die Kooperation zwischen Kommissaren und Abgeordneten eher konstruktiv und produktiv ist. Die wichtigste Veränderung, die ich den letzten fünf Jahren erlebt habe, hat sich nicht zwischen der Kommission und dem Parlament abgespielt, sondern zwischen der Kommission und dem Europäischen Rat, der Vertretung der 28 Mitgliedsländer.

Der Wert des Rates ist extrem gestiegen gegenüber der Kommission, die weniger Triebkraft des europäischen Integrationsprozesses ist, sondern mehr Dienstmagd des Rates. Wir im Parlament würden uns vom Präsidenten der Kommission wünschen, dass er noch proaktiver mit dem Parlament zusammenarbeitet, weil wir uns als Vertretung aller Bürgerinnen und Bürger verstehen und uns nicht national sortieren.

Sie selbst sind Mitglied in drei durchaus wichtigen Ausschüssen – mit hochinteressanten Fragen: Energie, Forschung und Industrie und in zwei Ausschüssen zu den Beziehungen zu den USA und zu China. Inwieweit hatten Sie bisher mit den Gesetzgebungsverfahren wie TTIP o. ä. zu tun?

Von Gesetzgebung kann in diesem Zusammenhang noch keine Rede sein, weil das Europäische Parlament nur ein einziges Mal verbindlich beschlussfassend damit befasst werden wird. Das wird ganz am Ende sein, wenn wir entscheiden werden, ob wir zustimmen oder ablehnen. Das Parlament hat verschiedene TTIP-Resolutionen beschlossen, denen wir als Grüne nicht zugestimmt haben.

Wir Parlamentarier werden nicht gut genug informiert, was den Prozess der Verhandlungen anbetrifft. Trotzdem versuchen wir uns in die Debatte mit einzumischen. Ich versuche aktuell eine gute Kooperation zwischen europäischen und amerikanischen Verbraucher- und Umweltorganisationen zu fördern, damit man gemeinsam die eigenen Standpunkte stärker zum Tragen bringen kann. Als großes Problem sehe ich an, dass das Verfahren wenig transparent ist. Es gibt sehr guten Zugang für Industrie-Lobbyisten, jedoch keinen vergleichbaren Zugang für Vertreter von Gewerkschaften oder Umwelt- und Verbraucherorganisationen. Ich selbst habe noch nicht einen Text, den die Kommission in den Verhandlungsrunden auf den Tisch gelegt hat, sehen können.

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