Die Fragen, die sich deutsche Autoren und Forscher beim Umgang mit der eigenen Vergangenheit nicht stellen, die müssen andere stellen. Tun sie auch. Und manchmal bekommt es auch der deutsche Leser mit – wie aktuell mit Bill Nivens Buch „Das Buchenwaldkind”. Die Ãœbersetzung erschien im Mitteldeutschen Verlag, dort also, wo 1958 auch jener Roman erschien, der Anlass für Bill Nivens Recherche wurde: Bruno Apitz’ „Nackt unter Wölfen”.

Bill Niven ist Professor an der Nottingham Trent University in England und lehrt dort Zeitgenössische Deutsche Geschichte. Eine Arbeit, die der 1956 Geborene auch mit Büchern unterfüttert hat, die längst eine Ãœbersetzung wert sind. Aber weder „Germans as Victims: Remembering the Past in Contemporary Germany” (2006) noch „Facing the Nazi Past: United Germany and the Legacy of the Third Reich” (2001) scheinen bislang auf deutsch vorzuliegen.

Was steckt hinter dem Weltbestseller?

Mit „The Buchenwald Child” von 2007 ging’s schneller. Nicht nur weil der Verlag Interesse am Thema hatte. Immerhin gehört „Nackt unter Wölfen” zu den wenigen wirklichen Welt-Bestsellern aus der DDR. In über 30 Sprachen übersetzt, in der DDR allein 1,51 Millionen Mal verkauft, außerhalb des Landes eine weitere Million Mal. Der 1900 in Leipzig geborene Bruno Apitz schaffte mit dem Buch das, was ihm in seinem frühen Versuch einer Schriftstellerkarriere in der Weimarer Republik nicht gelang. Das Buch wirkt auch deshalb, weil Apitz – seit 1927 Mitglied der KPD – das Leben im KZ Buchenwald als Häftling selbst kennen lernte.

Apitz war ein typischer Vertreter jener Generation von Kommunisten, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 sofort verhaftet wurden. Kurzzeitig entlassen, beteiligte sich der ausgebildete Stempeldrucker, als Buchhändler, Schauspieler und Autor nicht wirklich Erfolgreiche, an einem Versuch, die KPD in Leipzig wieder zu gründen, wurde 1934 wieder verhaftet und erlebte das „Dritte Reich” fortan nur noch in Gefangenschaft – drei Jahre lang im Zuchthaus Waldheim, ab 1937 – bis zur Befreiung des Lagers durch die US-Amerikaner – im KZ Buchenwald.

Und er ließ sich Zeit, das Buch zu schreiben. Der DEFA bot er das Material sogar vergeblich als Filmstoff an. Man war noch nicht so weit. Man begriff sich in den regierenden Kreisen zwar als Hort des kämpferischen Antifaschismus – assoziierte aber mit den Konzentrationslagern nur Leid und Tod. Bis Apitz mit seiner Geschichte um das gerettete Kind, verflochten mit der Story um die Selbstbefreiung des Lagers, die Vorlage lieferete für eine neue – kämpferische Interpretation. Und für eine Art Gründungsmythos für die DDR und ihre regierenden „Väter”.

Die Geschichte eines Buches

Sehr klug und umfassend analysiert Niven, wie das Buch – parallel zur Gedenkstätte Buchenwald – entstand. Ãœbrigens mit starker Hilfe des Verlages, der viel dazu tat, das Buch zu einem gut lesbaren zu machen. Dass es am Ende in sehr freier Interpretation die Geschichte des tatsächlichen Kindes Stefan Jerzy Zweig erzählt, wird zum Problem, wenn man das Buch tatsächlich als dokumentarische Erzählung betrachtet.

Niven erzählt auch Zweigs Geschichte und den Weg des „wiedergefundenen” Buchenwald-Kindes in die DDR. Bewusst hat Niven sein Buch mit „Wahrheit, Fiktion und Propaganda” untertitelt und spürt jedem Wirkungsstrang einzeln nach – der Entstehung des Buchenwald-Mythos genauso wie der Aneignung der Rettungsgeschichte durch die DDR-Propaganda. Einer Aneigung, die zeitweise vergessen ließ, dass 1945 über 900 Kinder aus dem KZ Buchenwald befreit wurden. Die aber auch den kommunistischen Widerstand im Lager einseitig glorifiziert und dabei auch das Leid der vielen anderen Opfergruppen im Lager ausblendete. Auch das der jüdischen Gefangenen, auch wenn Apitz zumindest anklingen lässt, dass Stefan ein jüdisches Kind ist.

Doch den jüdischen Vater, der den Jungen durch mehrere Lagerstationen immer wieder gerettet hat, hat Apitz aus der Handlung herausretuschiert, dafür die Rolle des Internationalen Lagerkomitees deutlich überzeichnet und seinen Roman in der Selbstbefreiung gipfeln lassen, die so tatsächlich nicht stattfand.

Ideologische Interpretationen

Doch dabei lässt es Niven nicht bewenden. Denn wirklich glorreich war auch die Revision der Buchenwald-Geschichte nach 1990 nicht. Nun war es die eher westliche Geschichtsinterpretation, die die mit der Lagerverwaltung betrauten kommunistischen Häftlinge mit den SS-Schergen gleichsetzte und auch die Geschichte der Kindesrettung umretuschierte. Ganz so, als ginge es vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Mordmaschinerie immer wieder um die richtige ideologische Position.

Niven geht recht ausgewogen darauf ein, unter welchen Bedingungen Häftlinge in Buchenwald versuchten, ihr Ãœberleben zu sichern und wie auch Stefan Jercy Zweig am Ende überlebte – vor allem weil sein Vater Zacharius nie aufgab, seinen Sohn zu retten. Niven erzählt auch ihre Nachkriegsschicksale, ihre Verwobenheit in die jeweils sanktionierten Interpretationen.

Er deutet zumindest an, wie sich auch in der DDR das Bild von den Opfern des Nazireiches allmählich wandelte, auch durch Bücher, die den durch Apitz begründeteten Rettungs- und Gründungsmythos kenntnisreich hinterfragten – wie Fred Wanders „Der siebente Brunnen” oder Jurek Beckers „Jakob der Lügner”. Die Wirkung des „Tagebuchs der Anne Frank”, das erst spät in der DDR erschien, unterbewertet er vielleicht sogar.

Unheroische Geschichte

So ergibt sich natürlich ein sehr differenziertes Bild von der Rettung des „Buchenwald-Kindes”, aber auch von der Rolle, die die einst im KZ inhaftierten Kommunisten in der DDR spielen durften und wie die Neuinterpretation des kommunistischen Wiederstands im KZ Buchenwald zu einem der Gründungsmythen der DDR wurde.

Ein am Ende sogar recht komplexes Buch über deutsch-deutsche Befindlichkeiten im 20. Jahrhundert und den Snobismus von so mancher Geschichtsrevision, die – das beklagt dann auch Stefan Jercy Zweig in einem eigenen Buch – eines vemissen lassen: Mitgefühl. Vor allem mit den Opfern. Geschichte liest sich dann deutlich anders – nur nicht so heroisch.

Bill Niven “Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda”, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2009, 24,90 Euro

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