Eigentlich weiß es Brunhild Kurth, die sächsische Kultusministerin, ganz genau, woran es liegt, dass Sachsens Schülerinnen und Schüler in Mathematik und den Naturwissenschaften ihren Altersgenossen in den meisten westdeutschen Bundesländern um zwei Jahre voraus sind. "Am hervorragenden Abschneiden der sächsischen Schüler haben natürlich Sachsens Lehrerinnen und Lehrer einen enormen Anteil", sagte sie am Freitag, 11. Oktober, gleich nach Bekanntwerden der Ergebnisse des neuen Ländervergleichs.

“Ohne ihre gute Arbeit wäre dieser tolle Erfolg nicht denkbar gewesen”, sagte sie und machte darauf aufmerksam, wie wichtig guter Unterricht ist. “Gute Schule ist guter Unterricht. Auch in Zukunft werden wir alles daran setzen, die Unterrichtsqualität weiter zu sichern. Dabei kommt es vor allem darauf an, beim Generationswechsel im Lehrerzimmer das Niveau zu halten und auszubauen. Es ist wichtig, dass die älteren Lehrer ihre Erfahrungen an die jüngeren weitergeben und die frisch ausgebildeten Pädagogen neue Erkenntnisse in den Unterricht einbringen.”

Das ist wie Bonbons Verteilen und hinterher gleich wieder wegnehmen. In der Floskel “die Unterrichtsqualität weiter zu sichern” steckt das ganze sächsische Dilemma. Um das hohe Niveau, das über mehr als zwei Jahrzehnte aufgebaut wurde, zu halten, müssten jetzt junge Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden. Doch seit drei Jahren stellt der Freistaat deutlich weniger junge Pädagogen ein, als gebraucht werden. Man ruiniert gerade das, was vorher aufgebaut wurde. Mit einem frühzeitigen Festlegen auf ein zweigliedriges Schulsystem und ein G8-Abitur. Da wäre noch mehr drin. Aber der bundesweite Vergleich zeigt, dass selbst dieses sächsische Bildungssystem Gold wert ist. Andere Bundesländer stecken noch im Umbau und hängen um Jahre hinterher. Auch in der so wichtigen Fokussierung auf die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), die wichtigsten Grundlagen für immer mehr moderne Berufe.

Zumindest unter der Regierung Biedenkopf war man sich dessen sehr bewusst, dass ein Bundesland wie Sachsen, dem im Höllenritt der frühen 1990er Jahre fast die komplette Industrie abhanden kam, dringend kluge Köpfe braucht, Bildung als wichtigstes Gut. Aber seit der Staffelstabübergabe an Milbradt und seine Nachfolger ist der Wurm drin. Über die Notpäckchen der aktuellen Regierung braucht man eigentlich kein Wort mehr zu verlieren. Die von Kurth gepriesene Staffelstabübergabe findet nicht statt. Hunderte frisch ausgebildeter Pädagogen verlassen das Land, weil ihre Bewerbungen hier nicht angenommen werden.

Natürlich hat nicht nur Sachsen allein dieses Rezept für eine bessere Schulausbildung. Die hohen Standards in den MINT-Fächern gründen allesamt noch auf einer Lehr- und Lernkonzeption, die in der DDR entwickelt wurde. Es ist einer dieser widersprüchlichen Fakten, die aber trotzdem zur Grundbeschreibung der DDR gehörte, die im Prinzip vor dem selben Dilemma stand wie die ostdeutschen Bundesländer noch heute: Geld war knapp, Rohstoffe hatte das Land kaum – die einzige Chance, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten, wäre Bildung, Forschung, Innovation gewesen. Nur hat das Land mit all den klugen Köpfen nichts anfangen können, weil die Passstücke fehlten – die hohen Bildungsstandards mündeten nicht in eine höhere Innovationsrate der Industrie. Dazu fehlte dann wieder das Geld.

In diesem Herbst 1989 steckt auch eine Menge intellektueller Frustration. Und insbesondere bei den hoch ausgebildeten jungen Leuten der DDR war in den 1980er Jahren das Interesse gewachsen, das Land zu verlassen.

Die Not gibt es heute nicht mehr. Doch die andere Not, die der fehlenden Gelder für Forschung, Innovation und Umsetzung in Produkte, ist wieder da. Sachsen bildet seine jungen Leute auf hohem MINT-Standard aus – aber neue Arbeitsplätze werden vor allem in Dienstleistung und Logistik geschaffen. Während selbst der Umgang mit modernen Technologieunternehmen in Sachsen eher abwartend bis ablehnend ist – aktuell zu erleben beim kompletten Technologiebereich der erneuerbaren Energien. Ablesbar aber auch in einem fast rücksichtslosen Umgang mit den sächsischen Hochschulen. Selbst modernen technischen Hochschulen wie der HTWK hat das Wissenschaftsministeriums behördlich eine Kürzung der Dozentenstellen um 6 Prozent verordnet.

Manchmal sieht es so aus, als würden die alten Schatten, die der DDR ihre innovative Basis entzogen, wieder aufleben, schön zugetüncht von Sonntagsreden. “Bereits in der frühkindlichen Bildung beginnen wir mit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Förderung. Die Fördermaßnahmen setzen sich mit einem hohen Anteil der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer an den Gesamtwochenstunden von zum Teil deutlich über 30 Prozent in der Grundschule und allen weiterführenden Schulen fort”, sagt Kultusministerin Brunhild Kurth so einen Sonntagsreden-Satz. Aber welches “Wir” meint sie damit? Eine Staatsregierung, die ihre Beiträge zur frühkindlichen Betreuung 2005 eingefroren hat und mit der Bildung der schwarz-gelben Regierung 2009 auch sofort das beitragsfreie Vorschuljahr gestrichen hat?

Wird die Ministerin überhaupt noch rot, wenn sie solche Sätze sagt?

Oder erwartet Sachsens Staatsregierung, dass die Kommunen nun all ihre Aufgaben übernehmen, derer sich das Regierungskabinett so selbstgefällig rühmt? – Das wird nicht funktionieren. Im Gegenteil. Städte wie Leipzig gehen kaputt an diesen immer höheren Finanzierungsbürden.Der am Freitag vorgestellte “IQB-Ländervergleich 2012” erzählt also wieder eine Erfolgsgeschichte, aus der der Freistaat Sachsen am Ende nichts macht. Auch wenn das beharrliche Drängen auf bundesweit einheitliche Abitur-Standards ein kleiner Lichtblick ist. Denn die jetzt ermittelten Zahlen zur MINT-Kompetenz der Neuntklässler zeigt, dass die Noten in den verschiedenen Bundesländern ein signifikant unterschiedliches Niveau haben müssen. Nur sieht man das den Zeugnissen nicht an.

Dabei fällt es auf, dass (außer Berlin und Mecklenburg-Vorpommern) die ostdeutschen Bundesländer geschafft haben, auch trotz hoher Gymnasialquote einen hohen MINT-Standard auf beiden Bildungswegen zu erhalten. Aus dem Bericht zitiert: “Würde man die vier ostdeutschen Flächenländer Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen außen vorlassen, so ergäbe sich für die anderen 12 Länder ein klarer Zusammenhang zwischen der Gymnasialquote des Landes und dem durchschnittlich erreichten Kompetenzniveau in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern: Mit steigender Gymnasialquote gehen niedrigere durchschnittliche Kompetenzen einher. Die vier genannten Länder Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen schaffen es hingegen, diese Koppelung aufzulösen, indem sie es trotz einer relativ hohen gymnasialen Beteiligungsquote von jeweils über 40 Prozent ihren Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ermöglichen, überdurchschnittlich hohe Kompetenzen zu entwickeln. So ist beispielsweise der mittlere Kompetenzstand in Mathematik an den sächsischen Gymnasien mit dem in Bayern vergleichbar, obwohl in Sachsen der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die das Gymnasium besuchen, rund ein Drittel höher liegt.”

Was natürlich auf die hohe MINT-Kompetenz der Gymnasial-Lehrer verweist, aber auch die noch lebendige Tradition der Polytechnischen Oberschulen sichtbar macht, die so ja auch hießen, weil der naturwissenschaftliche Fächeranteil immer hoch war. Das klingt auch im Bericht an, wenn zu lesen steht: “So lässt sich für die ostdeutschen Flächenländer ein klares fachliches Profil identifizieren, mit deutlichen Stärken im Bereich der Mathematik und der Naturwissenschaften und teilweise erheblichem Optimierungsbedarf in der ersten Fremdsprache Englisch.”

Eine Aussage mit Hinkefuß. Warum wird das Fach Englisch hier so hervorgehoben?

Implizit verweist das auf eine andere Erkenntnis im Bericht, der eben nicht nur aufzeigt, wie wichtig die Fachkompetenz der Lehrer ist. Er zeigt auch, wie sehr das westdeutsche Bildungssystem auch eines der verzerrten Selbstwahrnehmung war. Denn wer sich den Berichtsteil zu Motivation und Selbstkonzept anschaut, findet ausgerechnet jene Bundesländer an der Spitze, die die schlechtesten Ergebnisse vorzuweisen hatten. Das Interesse der Schülerinnen und Schüler an Mathematik und Naturwissenschaft ist ausgesprochen hoch – doch sie erreichen nicht annähernd die Leistungen der Schüler aus jenen Bundesländern, die scheinbar ein schlechtes Selbstkonzept haben. Oder ist es ein schlechteres Selbstbild? Denn im Selbstkonzept steckt ja unter anderem auch die Einschätzung “fällt mir leicht” und auch die Entscheidung, das Fach vielleicht später sogar zu studieren.

Das Selbstkonzept wirkt aber auch wieder zurück als Motivation. Besonders nachweisbar bei den Jungen im Fach Mathematik: Das hohe Interesse und das Gefühl, alles leichter zu verstehen, führen dazu, sich auch mit mehr Engagement dem Fach zu widmen. Was auch im Fach Physik sichtbar wird – während Mädchen in Chemie und Biologie nicht nur bessere Leistungen zeigen, sondern auch ein höheres Interesse.

In Mathematik erreichen Sachsens Neuntklässler mit 529 den absoluten Spitzenwert – vor Bayern (519) und Thüringen (510). Die Gymnasiasten schafften sogar 608 Punkte – nur noch knapp von den bayerischen Gymnasiasten (610) übertroffen. In den Naturwissenschaften fällt das gleichermaßen hohe Niveau in Sachsen, Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt auf, bei dem auch Bayern nicht mithalten kann.

Der Bericht ist also auch ein deutlicher Hinweis darauf, wie in allen 16 Bundesländern das Schulsystem organisiert werden kann, damit es überall bessere Ergebnisse bringt. Dass zwischen den Bundesländern Ergebnisunterschiede von mehr als 20, 30 Punkten, teilweise über 60 Punkten liegen, bedeutet eben auch einen Unterschied im Lernfortschritt von bis zu zwei Jahren. Und der geringe soziale Gradient in Sachsen zeigt auch, dass ein klug organisiertes Bildungssystem auch die sozialen Ausgangsvoraussetzungen abschwächen kann. Wirklich minimieren kann es sie erst, wenn auch Kinder aus bildungsfernen Schichten (wieder) mehr Förderung bekommen, um die sozialen Bildungsnachteile aufzuholen.

Und für den Primus Sachsen ist dieser Bericht eine Warnglocke. Eine sehr laute. Denn deutlich stellt er fest, was passiert, wenn den Schulen die Fachlehrer verloren gehen – dann sinkt der Erfolgspegel deutlich.

Wenn die aktuelle sächsische Regierung klug ist, dann schnürt sie jetzt keine “Sicherungspakete”. Das die auch nur das Geringste helfen, bezweifeln die betroffenen Lehrer, Schüler und Eltern zu Recht. Wenn diese Regierung klug ist, dann sorgt sie dafür, dass spätestens mit dem Schuljahr 2014/2015 so viele junge Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden, dass das Niveau wirklich gehalten werden kann.

Die Frage ist nur: Ist diese Regierung so klug?

Der IQB-Bericht als PDF zum download.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar