Die Geschichte des Flick-Konzerns gilt vielen bislang als eine rein westdeutsche. Dabei baute Friedrich Flick (1883 - 1972) in den 1920er Jahren "beinahe ein schwerindustrielles Monopol im mitteldeutschen Raum" auf, so der Berliner Historiker Kim Christian Priemel. Ein L-IZ-Interview über Flugzeugbau und Zwangsarbeit in den Leipziger ATG-Werken.

Der Historiker Dr. Kim Christian Priemel hat sich umfassend mit der Geschichte des Flick-Konzerns beschäftigt. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Berliner Humboldt-Universität. Derzeit nimmt Priemel ein Feodor-Lynen-Stipendium an der University of Cambridge und an der Harvard University wahr.

Herr Priemel, in den Jahren der Weimarer Republik kauft der gebürtige Siegerländer Friedrich Flick viele Unternehmensbeteiligungen im mitteldeutschen Industriegebiet und im Großraum Berlin. Was gab den Ausschlag für diesen regionalen Schwerpunkt?

Flicks mitteldeutscher Fokus ging auf eine Mischung aus Zufällen und Folgerichtigkeit zurück. Ursprünglich griff er 1920 nach Oberschlesien aus, schlicht, weil dort infolge der Aufteilung zwischen Deutschland und Polen die Besitzverhältnisse in Bewegung gekommen waren – und in anderen großen Revieren war zu dieser Zeit wenig zu holen.
Über Verbindungen zwischen den westoberschlesischen und den mitteldeutschen Unternehmen fasste Flick in den folgenden Jahren in Sachsen und Brandenburg Fuß und kontrollierte schließlich die Lauchhammer-Gruppe. 1926/27 brachte er seinen Besitz in die neugegründeten Vereinigten Stahlwerke – den größten deutschen Montankonzern – ein und schaffte somit den Durchbruch an der Ruhr. Intern blieb er aber für die nun Mittelstahl genannte Tochterfirma zuständig und nahm diese auch wieder mit, als er sich 1932 aufgrund von Überschuldung von seiner Beteiligung an den Vereinigten Stahlwerken trennen musste.

Erst im Zuge dieser Lösung aus dem Westen entstand der “Mitteldeutschland-Plan”: Wenn Flick einen nennenswerten und rentabel arbeitenden Konzern errichten wollte, dann blieb nur der Raum zwischen Ostsee und Bayern. Das setzte Flick konsequent – und nicht zuletzt unter Verdrängung jüdischer Eigentümer – in den dreißiger Jahren um und erreichte beinahe ein schwerindustrielles Monopol im mitteldeutschen Raum sowie eine fast lückenlose Produktionskette von der Braunkohle bis zum fertigen Waggon.

Kurz vor Jahresende 1932 gliederte Flick das Leipziger Maschinenbauunternehmen Allgemeine Transportanlagen-Gesellschaft mbH, die ATG, in sein Firmenkonglomerat ein. Wie kam es dazu?
Lange Zeit galt die Übernahme der ATG als Paradebeispiel für Flicks frühes Wissen um die Aufrüstung im Dritten Reich – doch das hieße, ihn zu überschätzen. Es spricht wenig dafür, dass er schon vor dem Eintritt Hitlers in die Regierung auf einen aggressiven, die Versailler Bestimmungen massiv verletzenden Kurs setzte, insbesondere auf den verbotenen Aufbau einer Luftwaffe.

Die Erwägungen, die zum Kauf führten, waren banaler. Die ATG war eines von zwei nennenswerten Unternehmen in der Produktion von Förderbrücken für den Braunkohletagebau – das andere waren Flicks Mittelstahl-Betriebe in Lauchhammer. Angesichts der tiefen Krise ging es darum, über die Unternehmenskonzentration in diesem Segment Kosten zu sparen und Preiskonkurrenz auszuschalten.

Die zusätzliche Option, mit der ATG ein rüstungsfähiges Unternehmen in der Konzernpalette zu haben, spielte vermutlich als Hintergedanke eine Rolle, zumal Mittelstahl bereits in den zwanziger Jahren als illegaler Zulieferer der Reichswehr agiert hatte. Aus diesem Potential wurde dann 1933 eine echte Gelegenheit, als Göring zum Reichsminister für die Luftfahrt ernannt und der Bau einer Luftflotte als Ziel offenkundig wurde.

Was prädestinierte die ATG dazu, zu einem der größten Produktionsstätten in der NS-Luftrüstung zu werden?

Die ATG war nach dem Ersten Weltkrieg aus den Deutschen Flugzeugwerken hervorgegangen, da der Versailler Vertrag eine deutsche Luftwaffe untersagte und die zivile Luftfahrt keine ausreichenden Betätigungsfelder bot. Die Quellenlage für die ATG ist leider äußerst lückenhaft, aber es liegt nahe, dass wenigstens ein Teil des Facharbeiterstammes in den dreißiger Jahren noch über Erfahrungen im Flugzeugbau verfügte.

Inwieweit auch Maschinen und Anlagen zur Verfügung standen, lässt sich nicht sagen. Dass aber modernes technisches Knowhow fehlte, deuten die gescheiterten Sondierungen an, mit denen Flick versuchte, Dornier, Heinkel oder Junkers für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.

Der eigentliche Vorteil der ATG bestand also in dem gewissermaßen “historischen” Verweis auf die frühere Zweckbestimmung, mit der man bei den Reichsbehörden Aufträge einwerben konnte. Der zweite Pluspunkt lag nicht bei der ATG, sondern bei Flick selbst. Sein langjähriger Mitarbeiter Heinrich Koppenberg wurde 1933 im Zuge der Ausbootung von Hugo Junkers zum starken Mann bei dem Flugzeugbauer gemacht – und fortan baute die ATG in Lizenz Junkers-Flugzeugteile.

Wie lukrativ war für den Flick-Konzern der frühe Einstieg in die NS-Luftrüstung?
Verlässliche Angaben über die Umsatz- und Gewinnentwicklung bei der ATG lassen sich kaum treffen, da kontinuierliche Geschäftsberichte, vor allem aber die relevanteren internen Aufstellungen fehlen. Einzelne Ausschnitte zeigen, dass das Unternehmen sehr rasch zu einer lukrativen Beteiligung wurde und Ende der dreißiger Jahre monatliche Gewinne im sechsstelligen Bereich verbuchen konnte. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Preiskontrolle der Rüstungsbehörden in der prioritären Luftfahrtindustrie oft nachlässig gehandhabt wurde.

Die Flugzellenproduktion im “Dritten Reich” war durch stabile Umsatzrenditen gekennzeichnet, und die ATG stellte da offenbar keine Ausnahme dar. Als Beleg für die hohe Profitabilität des Unternehmens lässt sich auch die massive Expansion deuten: Die ATG wuchs zu einem kleinen Konzern mit einem halben Dutzend Werken und mehreren, im eigenen Besitz befindlichen Zulieferern wie etwa die Leipziger Werkzeug- und Gerätefabrik heran.

Welche Bedeutung erlangten die ATG-Werke während des Krieges im Gesamtsystem der deutschen Rüstungsindustrie?

Die ATG blieb während ihrer gesamten Zeit als Teil des Flick-Konzerns ein wichtiger Zulieferer im Flugzeugbau, ohne allerdings in die Liga der “Großen Drei” – Dornier, Heinkel, Junkers – vorzustoßen, weder hinsichtlich der Größe noch qua Bedeutung. Die ATG konstruierte keine eigenen Flugzeuge, sondern baute in Massenfertigung Lizenzprodukte, war mithin zumindest theoretisch relativ leicht ersetzbar. In der recht kleinteilig organisierten Flugzeugproduktion der dreißiger und vierziger Jahre war sie ein wichtiges Glied, aber nicht von herausragender Bedeutung – beziehungsweise diese leitete sich eher daraus ab, dass die deutsche Fertigung nach Kriegsbeginn zusehends ins Hintertreffen gegenüber den Alliierten geriet und keinen Ausfall verkraften konnte.

Welchen Umfang nahm nach Ihrer Kenntnis die Ausbeutung von Zwangsarbeitern in den Leipziger ATG-Werken an?

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Für kaum eines der größeren Konzernwerke sind die Daten so unvollständig wie für die ATG, eine präzise Angabe für alle Kriegsjahre ist nach den mir bekannten Quellen nicht möglich. Wir wissen aber, dass ab Frühjahr 1942 größere Kontingente ausländischer, größtenteils gezwungener Arbeiter in Leipzig eintrafen. Mitte 1943 lag ihre Zahl bei etwa 1.500 Menschen, das entsprach fast einem Viertel der Belegschaft.

Ob daneben auch Kriegsgefangene – widerrechtlich, da internationales Recht den Einsatz in der Rüstungsproduktion verbot – zugewiesen wurden, ist unklar. Aber im August 1944 gelangten rund 500 jüdische Frauen aus Ungarn über das KZ Stutthof zur ATG.

Über die Bedingungen ihres Einsatzes wie auch der übrigen Ausländer fehlen Informationen bisher weitgehend. Es ist aber kaum anzunehmen, dass diese weniger erbärmlich und mörderisch ausfielen als in anderen Werken des Flick-Konzerns beziehungsweise der deutschen Industrie.

Im Jahr 1944 wird der Anteil von Zwangsarbeitern bei etwa 40 Prozent gelegen haben, wenn nicht gar mehr – allerdings erschweren hier die heftigen Luftangriffe auf Leipzig und die resultierenden Verlagerungen den Überblick zusätzlich. Die Produktion bis ins Frühjahr 1945 wäre jedenfalls ohne den massiven Zwangsarbeitereinsatz nicht aufrechtzuerhalten gewesen.

Literaturhinweis: Kim Christian Priemel “Flick: Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik”, Wallstein-Verlag, Göttingen 2007

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