Die Schlacht von Stalingrad vor 70 Jahren ist Sinnbild. Mit Kampf, Kälte, Hunger, Verzweiflung, Zerstörung und - perspektivengebunden - Triumph und Niederlage verbinden viele Menschen das Ereignis, so die Macher der aktuellen Sonderausstellung im Militärhistorischen Museum Dresden. Diese bringt uns Ereignis und Wirkung in vielen Facetten näher.

Dresden gedenkt an diesen Tagen der Bombardierung der Stadt durch alliierte Flugzeuge am 13. und 14. Februar 1945. Wie seit Jahren schon, haben sich Rechtsextreme angesagt, um mit einer Demonstration ihre krude Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und die heutige Zeit darzustellen. Zivilgesellschaftlicher Protest dagegen formiert sich.

Im Norden Dresdens dokumentieren in diesen Wochen Bilder und Exponate die Bombardierung einer anderen europäischen Stadt. Die Rede ist vom damaligen Stalingrad. Über der Stadt an der Wolga klinkten am 23. August 1942 Flugzeuge der deutschen Luftflotte 4 flächendeckend ihre Bomben aus.

Zu dieser Zeit lebten etwa 500.000 Menschen in der Industriestadt. In den folgenden Wochen und Monaten werden 400.000 Menschen die Stadt verlassen haben. Im Februar 1943 werden 10.000 der zurückbleibenden Stalingrader in ihrer Heimatstadt überlebt haben: “wie durch ein Wunder”, wie es in der aktuellen Sonderausstellung “Stalingrad” des Militärhistorischen Museums in Dresden heißt. Noch bis zum 30. April 2013 wird die Exposition gezeigt.

Einer der Wendepunkte des Krieges

Von Ende August 1942 bis Anfang Februar 1943 tobte die Schlacht um Stalingrad in aller Härte und Brutalität. Diese Schlacht ist noch immer einer der zentralen Erinnerungsorte zumindest der Europäer. Erinnerungsort in dem Sinne, wie die moderne Geschichtswissenschaft dieses Konzept versteht. Als Ereignis an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, das real und vor allem mental nachhaltige Spuren hinterlässt.

In einem solchen weiten Sinne nähern sich die Ausstellungsmacher dem Ereignis der Stalingrader Schlacht. Über 500 Exponate und Dokumente haben sie zusammengetragen, reichlich die Hälfte sind Leihgaben russischer Institutionen.

Es geht um weit mehr als um eine Ansammlung von Militaria und Schlachtplänen. Ein markantes Ausstellungsexponat ist die Schreibmaschine der 29. Stalingrader Schule im Stadtbezirk des Traktorenwerkes. Denn die Schlacht tobte nicht auf einem klassischen Schlacht-“Feld”, sondern auf dem Territorium einer strategisch wichtigen Halbmillionen-Metropole.

Das Modell der Firma Underwood, New York, aus dem Jahre 1930 überdauerte das monatelange Inferno. Das Staatliche historische Museumsreservat “Stalingrader Schlacht” in Wolgograd steuerte die Maschine bei.

In der Erinnerung, insbesondere im vormaligen sowjetischen Einflussbereich, stand Stalingrad lange für die militärische Wende des Zweiten Weltkrieges. “Jüngere Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft sprechen gegen diese Annahme”, heißt es auf der Schautafel am Eingang. Gleichwohl war die Schlacht an der Wolga einer der zentralen Wendepunkte des Krieges. Eines Krieges, der von deutscher Seite als Angriffs- und Vernichtungskrieg geführt wurde. Eines Krieges, in dem unter Inkaufnahme abermillionenfachen Leids und von Millionen von Toten entschieden wurde, ob der Nationalsozialismus die künftige Welt prägen würde.

Dieses Schicksal blieb der Menschheit dankenswerterweise erspart. Das historische Ergebnis ist bekannt. Deshalb hier einige Streiflichter der politischen Wirkungen des Ausganges der Schlacht, von der die Ausstellung auch erzählt.

Während sich die Schlacht der Entscheidung näherte, trafen sich US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill im Januar 1943 im marokkanischen Casablanca, um die alliierte Kriegsstrategie abzustimmen. Der sowjetische Parteichef Josef W. Stalin blieb unter Verweis auf die laufende Schlacht fern. Mit Casablanca ist die Bekräftigung des Kriegsziels der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands verbunden.

“Hun collapse at Stalingrad”, titelte der britische “Daily Mirror” am 1. Februar 1943 zur Kapitulation der 6. deutschen Armee im Kessel von Stalingrad.

Im November/ Dezember 1943 trafen sich die Spitzen der Anti-Hitler-Koalition als “Große Drei” in der iranischen Hauptstadt Teheran. Churchill übergab Stalin ein Ehrenschwert des britischen Königs als Anerkennung des sowjetischen Sieges bei Stalingrad. Einer Schlacht, die die sowjetische Armee aus eigener Kraft entschieden hatte. Der Machtzuwachs der sowjetischen Seite innerhalb der Anti-Hitler-Koalition war offenkundig.Stalingrad in der NS-Propaganda: Erst kein Verdun, dann Thermophylen

Ab August 1942 berichteten die gleichgeschalteten deutschen Medien über den Vorstoß an die Wolga. Auch das zeigt die Ausstellung. Doch die propagandistisch vorweggenommenen Erfolge stellten sich nicht ein. “Weil ich kein zweites Verdun haben wollte”, bevorzuge er nun punktuelle Vorstöße an die Wolga in der Stadt, die zufällig Stalingrad heiße, verargumentierte Adolf Hitler in einer Rede am 8. November 1942 das offenkundige Ausbleiben des angekündigten Sieges.

Verdun, das Sinnbild für das vieltausendfache Sterben deutscher Soldaten ohne erkennbaren militärischen Nutzen im Ersten Weltkrieg, war damit vom bisherigen “Blitzsieger” Hitler in die Debatte eingeführt. Gut zwei Wochen später, am 23. November 1942, schlossen sowjetische Armeen bei Kalatsch den Kessel um die 6. Armee.

Am 30. Januar 1943 hatte Reichsmarschall Hermann Göring die Festrede zum zehnten Jahrestag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zu halten. Hier war der historische Bezug nicht mehr das kollektiv präsente Verdun.

Göring griff in die Antike zurück. Eine Streitmacht des griechischen Stadtstaates Sparta unterlag 480 vor Christus bei den Thermophylen einem übermächtigen Perserheer. Den nahen Tod der gesamten Streitmacht vor Augen, soll einer der Spartaner einem Augenzeugen zugerufen haben: “Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.”

Dieser Spruch war fester Bestandteil der klassischen Bildung in Deutschland, den freudigen Opfertod für das Vaterland preisend. Heinrich Böll hat diesen Teil der deutschen Gymnasialgeschichte in seiner Kurzgeschichte “Wanderer, kommst du nach Spa” verarbeitet.

Das “Fanal von Stalingrad”, so die Nazi-Postille “Illustrierter Beobachter”, sollte bei den Deutschen den Willen zum Weiterkämpfen bis zum Untergang bewirken. Die 6. Armee samt einer Reihe ihrer Divisionen wurde “zur Erhaltung der lebendigen Tradition dieser ruhmreichen Truppen” neu aufgestellt, wie wir in einem Wehrmachtsbefehl lesen können. Im Jahre 1944 wurde die “neue” 6. Armee im rumänischen Siebenbürgen erneut zerschlagen.

Die Anfänge in Leipzig

Doch die Anfänge der 6. Armee liegen in Mitteldeutschland, präziser in Leipzig. Hier erfolgte 1937 die Aufstellung des Heeresgruppenkommandos 4, dessen Chef war General Friedrich Paulus (1890 – 1957), der am 2. Februar 1943 nach erfolgter Kapitulation der 6. Armee im Range eines Generalfeldmarschalls in sowjetischer Gefangenschaft ging. Paulus’ vormaliger Leipziger Dienstsitz in der Windscheidstraße ist heute ein exklusives Wohnhaus.

Aus dem Heeresgruppenkommando 4 wurde die 10. Armee gebildet, die 1939 am Überfall auf Polen beteiligt war. Als nunmehr 6. Armee nahm der Großverband 1940 mit Paulus als Stabschef am so genannten Frankreich-Feldzug teil.

Der überzeugte Nationalsozialist Walter von Reichenau führte die 6. Armee im Sommer 1941 in den Krieg gegen die Sowjetunion. Die Pläne für den Angriff, den Plan “Barbarossa”, hatte Paulus im Generalstab des Heeres erarbeitet. Am 5. Januar 1942 folgte Paulus als Befehlshaber der 6. Armee auf Reichenau.

Zur 6. Armee gehört auch die Propaganda-Kompanie 637. Auf den 28. September 1941 ist ein Flugblatt datiert, das die Kompanie druckte. Auch das ist in der Ausstellung zu sehen. Es ist an die Kiewer Juden gerichtet, die sich versammeln sollen. Der Weg dieser Menschen führt in die Schlucht von Babi Jar, wo Ende September 1941 von SS-Einheiten mehr als 33.000 Juden erschossen wurden.

Der Weg dieser Propaganda-Kompanie verliert sich in der Schlacht von Stalingrad. Überliefert hingegen sind Fotos, die deutsche “Stalingrad-Kämpfer” bei sich trugen. Sie zeigen Massenerhängungen von Zivilisten während des Vormarsches in der Sowjetunion.

Walter Ulbricht und sein MachtnetzwerkZu den Stärken der Dresdner Stalingrad-Ausstellung zählt, dass die Fortwirkungen der Schlacht in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften dargestellt werden. Und da kommt ein gebürtiger Leipziger ins Spiel.

Der Kommunist Walter Ulbricht (1893 – 1973) forderte während der Stalingrader Schlacht über Megafon Wehrmachtssoldaten auf, sich der Roten Armee zu ergeben. Im Sommer 1943 kam es in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern zur Gründung des “Nationalkomitees Freies Deutschland” (NKFD) und des “Bundes Deutscher Offiziere” (BDO). Deren Mitglieder waren deutsche Kriegsgefangene und kommunistische Funktionäre. Zu ihnen zählten die beiden späteren DDR-Staatschefs Wilhelm Pieck (1876 – 1960) und eben Walter Ulbricht, geboren in der hiesigen Gottschedstraße.

Ein, am Ende der 1960er Jahre, gemaltes Auftragswerk vom prominenten Leipziger Maler Werner Tübke (1929 – 2004) setzte die Schlacht von Stalingrad und die NKFD-Gründung künstlerisch in Beziehung. Den Blickfang des Bildes, das gegen Ende der Ausstellung zu sehen ist, bilden Pieck und Ulbricht, die mit Wehrmachtssoldaten diskutieren. Tübke musste auf Wunsch der Auftraggeber die führenden Genossen mindestens einmal besser in Szene setzen. Nach Ulbrichts Entmachtung und Tod gab es für das Bild keine öffentliche Verwendung mehr.

Unter denen, die sich in NKFD und BDO engagierten, sind viele “Stalingrader”, entnehmen wir der Ausstellung. Viele von ihnen lebten nach dem Krieg in der SBZ/DDR. Gerade die “Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere” wird ein wichtiger Teil von Ulbrichts Machtnetzwerk: erst als Parteichef der SED und später als Staatschef, steht auf einer der Schautafeln. So wirkten sie bei der Aufstellung der Streitkräfte der DDR mit. Auch Paulus verbrachte nach sowjetischer Gefangenschaft seine letzten Lebensjahre in Dresden.

Stalingrad, dieser nachhaltig wirkende Wendepunkt der Geschichte des 20. Jahrhunderts, bietet Stoff für viele Geschichten. Das Militärhistorische Museum hat die verschiedenen Erzählstränge rund um das Jahrhundertereignis gekonnt zusammengeführt.

Ausstellungstipp: Sonderausstellung “Stalingrad”, 15.12.2012 bis 30.04.2013, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Olbrichtplatz 2, 01099 Dresden. Schließtag: Mittwoch.

www.mhmbw.de

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