In Wagners Welten schlagen lange nach Richards Tod kleine Dinge und Missverständnisse große Wellen, manche Fakten werden kaum beachtet: da kommt auf der Karibik-Insel Kuba "Der fliegende Holländer" heraus; ein exotisches Unterfangen! Man staunt über die Bühnenbilder in europäisch-traditionsreichem Design.

Und rund um Wagners Geburtsort Leipzig wimmeln etliche “Ring des Nibelungen”-Neuinszenierungen und -Wiederaufnahmen. Da marketingelt am besten jede Institution nur für sich selbst, wie es die Oper Leipzig mit einer Presse-Mitteilung als Wagner-Jahres-Rückblick tut. (siehe unten).

Leipziger Alltag: Neulich im Sport-Verein. Eine reife Dame sagt zu den anderen “Wagners Meistersinger habe ich einmal erlebt. Das war mir einfach zu lang!” – Eine andere antwortet: “Dann vielleicht eher noch den Nibelungen-Ring, da sind ein paar bekannte Melodien dabei!” – Sport frei!

Rosamund Gilmore schmiedet ihren Ring – ohne abzukupfern

Fast vierzig Jahre hatte Wagners Geburtsstadt keinen “Ring”. Seit der Intendanz von Udo Zimmermann wurde davon gesprochen, gar Steven Spielberg als Regisseur nominiert, auch Peter Konwitschny wurde von Ulf Schirmer erwähnt, der später lieber vier Händel-Opern machen wollte. “Lohengrin” kam über die Jahre öfters an, und verschwand wenig später wieder.

Es gibt, nach dem vielfältig interessant aufgemachten “Rheingold”, nun eine “Walküre” an Leipzigs Opernhaus, und nicht weniger tiefgründig. Intendant/GMD Ulf Schirmer steht am Pult, Rosamund Gilmore hat als Regisseurin tänzerisches Feeling aus ihrer Bühnenlaufbahn mitgebracht. Carl Friedrich Oberle baute die Bühne, bediente sich traditioneller Kulissen, ohne die Leipziger Dimensionen absichtlich zu verkleinern, Nicola Reichert entwarf die Kostüme, und bringt damit viel von dem ein, wo wir die Zeiten nicht zuzuordnen vermögen. Das ist nicht Second Hand á la Publikums-Kleiderschrank oder Vintage couture, sondern Maßarbeit einer eigenen Zeitrechnung. Alle Achtung!

Rosamund Gilmore zeichnet auch für die Choreographie, in Zusammenarbeit mit den Tänzern. Sie ist umsichtig und gut beraten genug, Bayreuther und anderen Anregungen nicht zu folgen.
Nachdem das sagenhafte Rheingold in einem maroden Palast wohl verwahrt war, die Rheintöchter aus dem Springbrunnen kamen, und Alberich aus der Unterwelt der Wasserspielkanalisation, die Götter die Wendeltreppe hinauf spazierten, stieg die Spannung auf den Fortgang.

Und nach dem “Rheingold”-Vorabend geht nun in der “Walküre” die Fortpflanzung und Auslese in Richtung moderner Mensch… Oder Übermensch, wie Friedrich Nietzsche dazwischen rufen würde. Bevor sich beim Vorspiel der Vorhang öffnet, wabert Qualm übers Orchester, das Ulf Schirmer, teils sogar den Sängern zum Trotz, bläserlautstark fordern wird.

Bühnenbild-Ideen großen Zuschnitts

Hundings Hütte ist eine kleine Welt für sich, ein Bunker mit Stahltüren um den Stamm der Weltesche gebaut, nach oben mit Stacheldraht gesichert, hörnertragende Widder tummeln sich lebendig – und als Jagdtrophäe in der Waffenkammer. Als Kleiderhaken dient das Schwert in der Weltesche. Siegmund und Sieglinde begegnen sich hier. Zwei der Mythen, die von Märchen-Freunden als Hänsel und Gretel enttarnt werden. Mit den “Wälse”-Rufen bringt der Siegmund Guy Mannheims sich und Leipzigs Opernhaus beschwörend zum schwingen.

Christiane Libor ist die Sieglinde, James Moellenhoff der Hunding, Markus Marquardt der Wotan. Ein überaus respektables aufeinander abgestimmtes Sängerensemble, wenn man die zweite Vorstellung erlebt hat.

Auf den Fürchtenix Siegfried müssen wir noch bis zum nächsten Abend warten und uns hier durch Gesang und Übertitel einigen Geschichten widmen, die sonst auch szenisch eine Herausforderung sein können, jene “grausamen Viertelstunden”, wie in der Wagner-Welt kolportiert wird. In Anwesenheit von Wald- und Hausgeistern bewegt sich da eine Welt zwischen Gestern und dem Fortgang der Dinge.

Bis im zweiten Aufzug Brünnhilde auftritt, in einem Raum, der an den maroden Palast des “Rheingolds” erinnert. Bzw. in den sie einreitet, sie sitzt zwar nicht auf Grane, aber sie bringt das Ross mit. Tänzerisch verkörpert wie viele andere zu Wagner hinzu erfundene Figuren, verkörpert durch neun Tänzer eines Extra-Ensembles. Im Programmheft zeigt ein Foto von 1876 das in Bayreuth ein echtes Ross auf der Bühne war.
Lange Zeit liegen die Tänzer-Hausgeister unter Mänteln verborgen auf dem Boden, rappeln sich auf, schieben die Wände auseinander und es wird Frühling zu “Winterstürme wichen dem Wonnemond”! Schönes Theater. Hier lässt sich die Regie tänzerisch Zeit.

Im Umbau zum dritten Aufzug scheinen andere Zeiten verstrichen zu sein: Ein Palast mit Bogenfenstern hängt schief in seiner Umgebung, lädt zur Besteigung und zum Rundblick ein! Grundlagen haben sich verändert, der Boden hat gebebt. Schon erahnbar ist, wohin Brünnhilde muss, um von Feuer umgeben auf den Furchtlosen Erlöser zu warten.

Wenn die Walküren Einzug halten, um die Seelen der Toten vom Schlachtfeld zu lesen, geraten Kleider-Ordnungen aneinander. In neun Variationen baut sich eine Linie auf, und hier wird aber nicht Laufsteg gespielt, in deren Collection Uniform-Teile mit verspielten Ball- und Bühnen-Garderoben-Zutaten bzw. -Weglassungen verarbeitet sind. Ein Klischee wird sinnfällig, dass der sich patriotisch aufopfernden Heldenjungfrauen, aus der Zeit der Befreiungskriege und der Völkerschlacht bei Leipzig im Richard-Wagner-Geburtsjahr 1813. Es passt zum Drive der Musik des Walküren-Ritts, wohl jener aus Wagners Feder, die nach ihm am meisten missbraucht worden ist.

Seelenlose Schlachtfelder mit Fußstapfen

Paarweise aufgestellt sind Dutzende weiße Stiefel, deren Träger nicht mehr da sind, die aber nun von anderen, dem tänzerischen Bewegungschor aus Rosamund-Gilmores-Personage, betreten werden, ertastet werden, denn sie bleiben am Ort, nur die Tänzer steigen durch die Fußstapfen hindurch weiter.

Bei der zweiten Vorstellung funzelt die Waberlohe zunächst als Lagerfeuer herum, erst zum Schlussapplaus weitet sich das Rund. Statt Flammenzüngeln wird hier verfeuert. Möge der Effekt künftig gelingen.

Zu guter Letzt: Noch ist nach zwei von vier Abenden nicht erkennbar oder gar kalkulierbar, in welcher Zeit wir uns befinden, und wo Rosamund Gilmore hin will, aus den vernachlässigten Gemäuern mit vorwärts drängendem, Mord nicht scheuenden Personal. Kein schlechtes Zeugnis im Zeitalter der vereinzelnden Kopfhörermusikbeschallung und Konsolen-Games-Feldherrn.

Die Ringe wuchern im 200 km-Umkreis Leipzigs. Halle, Magdeburg, Dessau, Dresden, Chemnitz, Berlin. Guiness-Buch-fähige Rekorde nach Anzahl der Inszenierungen, auch der Eintrittspreise und Finanzierungen. Ring- und andere Wagner-Aufführungen kurz oder lang, ernst, leicht oder seicht.
Leipzigs Wagner-Ehrung geht noch übers Festjahr hinaus weiter bis zu den Premieren von Siegfried und Götterdämmerung, und Pfingsten 2014 gibt es noch zwei Mal Wagner Reloaded in der Arena, bei dem gleich der ganze Wagner verladen wird, in einem materialreichen Elektrosound-Event, dessen menschlich am nächsten liegende Basis – zwei Solotänzer – Gregor Seyffert und Oliver Preiß – sinnfällig erden. Deren Act könnte später in kleinerer Form weiterleben.

Nächste “Walküre”: 5. und 11. Januar 2014

Rückblick der Oper Leipzig

99 Prozent-Auslastung vermeldet die Oper Leipzig für “Die Feen” und die Jugendwerke Wagners in Leipzig und Bayreuth, was gleichsam der Auftakt zu einer weitreichenden Kooperation mit den Bayreuther Festspielen (BF Medien GmbH) mit Wagners Frühwerken. Ob und wie die Kooperation fortgesetzt wird, teilte die Oper Leipzig nicht mit. Mehr Zahlen zu Vorstellungen, Auslastungen, Zielgruppen und Fortsetzungen etc. standen nicht in dem Papier.

Bayreuths “Ring”-Fassung für Kinder stand Pate für den Leipziger Kurz-Ring in der Musikalischen Komödie, zwei Wagner-Ballettabende brachte Mario Schröders Leipziger Ballett heraus, dann wäre da noch “Das Ding mit dem Ring”, die Wagner-Persiflage mit Westernmilieu und neuem, musicalträchtigem Sound in der Musikalischen Komödie. Leipzigs Wagner-Festtage sind heimisch geworden in der Oper und sollen dort ab 2015 fortgesetzt werden.

David Timms Rückblick

Außerhalb des Opernhauses und einst mit Ziel und Frist der Wagner-Festtage 2013 gegründet, löst sich die gleichnamige Gesellschaft e. V. nicht auf, sondern will weitermachen.

David Timm hat über die Jahre ein Wagner-Repertoire an vielen Orten, vom Bundesverwaltungsgericht über den Focke-Berg bis zum Ring-Café erarbeitet, hat im Alten Rathaus das “Meistersinger”-Vorspiel im heute gewohnten und im Wagner-Tempo dirigiert. Und nur nur die sicher geglaubte “Ring”-Spielstätte im Paulinum wegen unerklärbarem Bauverzug kam seinem Projekt in die Quere. Aufgeführt wurde allerdings die “Götterdämmerung” im Audi-Max der Universität.

Bühnenbildnerin Heiko Mondschein und der Theater-Techniker Bernd Erich Gengelbach hatten in die karge Hörsaal-Infrastruktur eine große Bühne, dahinter einen Orchestergraben und respektable Theater-Bühnenbeleuchtung eingebaut, Regisseur Joachim Rathke ließ die “Götterdämmerung” von mehreren Generationen der Familie Wagner erspielen! Eine rundum künstlerisch beachtliche Leistung. Von der Organisation jenseits angestammter Netzwerke gar nicht zu reden.

Dieser Tage erschien auf zwei DVDs der Live-Mitschnitt als Inszenierungsdokumentation. Wie zu hören war, ist die Aufnahme unverkäuflich, aber der Verein will sich damit bei Spendern bedanken (www.wagner-festtage.com).

Damit im Audimax geprobt werden konnte, gingen Studenten auch mal zur Vorlesung ins Opernhaus. Manchmal, viel zu selten, sind die Entfernungen am Leipziger Augustusplatz kurz.

Richard Wagner auf den Opernbühnen Europas:
www.richard-wagner-werkstatt.com
www.oper-leipzig.de
www.wagner-festtage.com

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