Marlen Hobrack ist Autorin, Kolumnistin, Literaturkritikerin, Moderatorin, Mutter und Metalhead. Die gebürtige Bautznerin schreibt in ihrer Kolumne im „Freitag“ von Elon Musk bis zu Selbstbestimmungsgesetz über aktuelle politische Themen und hat drei Bücher veröffentlicht. In ihrem Essay „Klassenbeste“ beschäftigt sie sich mit Frauen der Arbeiterklasse und ihrer eigenen Familiengeschichte. Ihr Roman „Schrödingers Grrl“ deckt neben vielen Themen auch Klassismus ab, den sie vor kurzem zum Zentrum ihres dritten Buchs „Klassismus. 100 Seiten“ gemacht hat.

Für alle, die deine Bücher nicht gelesen haben: Wie kommst du zum Thema Klassismus?

Den Begriff „Klassismus“ hätte ich gar nicht gebraucht, als ich angefangen habe, meinen Roman oder auch „Klassenbeste“ zu schreiben, obwohl es um Klasse geht. Darum geht es in dem neuen Buch beim Reclam-Verlag: Warum ist dieser Begriff „Klassismus“ seit einigen Jahren in aller Munde? Warum habe auch ich den vorher eigentlich noch nicht gebraucht?

Die Klassenfrage taucht in meinem Nachdenken seit vier oder fünf Jahren immer wieder auf, weil das Thema irgendwie überall ist. Es gibt natürlich diese neuere Klassenliteratur in Frankreich, aber auch in Deutschland. Man denke zum Beispiel an Christian Baron. Klasse ist neuerdings wieder in aller Munde, auch wenn es natürlich bestimmte Leerstellen des Nachdenkens gibt.

Irgendwann dachte ich: Ja, Klasse ist eine Kategorie, die wir seit Jahren und Jahrzehnten ein bisschen beiseitegeschoben haben. Sie ist gegenüber Kategorien wie Geschlecht oder race in den Hintergrund getreten in Deutschland. Vielleicht auch, weil wir die Idee haben, dass wir in einer klassenlosen Gesellschaft leben. Sich klarzumachen, wie sehr Klasse das Leben in der Gesellschaft durchdringt, war für mich ein Prozess, der diese letzten drei Bücher begleitet hat.

Wie würdest du Klassismus definieren?

Die einfachste Definition wäre die Benachteiligung aufgrund der Klassenzugehörigkeit einer Person. Das ist erstmal eine einfache Definition, aber sie wirft viele neue Fragen auf. Zum Beispiel: Was ist Klasse? Welche Klassen gibt es? Wie funktioniert klassistische Benachteiligung? Ist sie strukturell verankert? Vielleicht sogar in Gesetzen? Drückt sie sich in politischen Debatten aus und wie wir sie führen? Bis hin zu: Wie erkennen wir im Alltag die Klassenzugehörigkeit unseres Gegenübers und wenn ja, wie, wodurch, worüber?

All diesen Fragen gehe ich in meinem neuen Buch nach.

Du hast es gerade schon angesprochen, die wahrscheinlich interessanteste, aber auch grundsätzliche Frage daran ist: Was ist Klasse? In deinem Buch nimmst du dafür Bezug auf Marx, bleibst aber nicht dabei stehen. Was gehört für dich außer ökonomischen Faktoren noch zum Klassenbegriff?

Es gibt immer den Aspekt des Ökonomischen und den darf man nicht vernachlässigen. Natürlich definiert er ein Stück weit die Klassen, in denen wir uns bewegen. Aber es gibt auch den Habitus, also quasi die verkörperte Klassenzugehörigkeit.

Im Marxismus geht es immer auch um die Frage, wie eigentlich Klassenbewusstsein entsteht oder warum es unter bestimmten Bedingungen ausbleibt. Dieser Frage geht Pierre Bourdieu etwas genauer nach. Interessanterweise ist die Antwort, dass über die täglichen Verhaltensweisen, über Kultur oder Kleidungsstil Klasse immer wieder neu definiert und performativ dargestellt oder eingeübt wird.

Klasse ist also nicht nur Ökonomie. Es geht auch um die Fragen, was wir essen, wie wir uns kleiden, ob wir gern ins Theater oder in die Oper gehen oder ob wir gern Wrestling schauen und was für Vorlieben wir sonst noch haben.

In „Klassenbeste“ schreibst du, dass in den Köpfen vieler Menschen der Arbeiter immer noch der mittelalte weiße Mann ist. Dagegen erzählst du die Geschichte deiner Mutter als Frau ihrer Klasse. Wo siehst du die Verbindungen zwischen Geschlecht und Klasse?

Geschlecht wird auch durch die Klasse definiert. Wenn wir über Geschlecht oder Sexismus sprechen, gibt es oft den Eindruck, dass es genau ein Männerbild und ein Frauenbild gibt. Es ist aber offensichtlich, dass man beispielsweise in der akademisch-gebildeten Mittelklasse ein anderes Frauen- oder Männerbild beziehungsweise -ideal hat, als zum Beispiel in der Arbeiter*innenklasse. Da geht es etwa um die Frage, ob man die Frau und Mutter als Hausfrau oder als erwerbstätige Frau idealisiert.

Meine These in „Klassenbeste“ ist, dass die Arbeiterklasse ein anderes Frauenbild etabliert als die akademisch-gebildete Mittelklasse und deshalb gegen andere Probleme ankämpfen muss, sowohl im Frauen- wie im Männerbild. Es ist, auch eine These des Buches, gerade in der DDR in vielerlei Hinsicht leichter gewesen Berufs- und Fürsorgetätigkeit miteinander zu verbinden, weil die Anforderungen an das Frau- und Muttersein in der Arbeiter*innenklasse andere waren als in der Mittelklasse, auch in der westdeutschen Mittelklasse.

In deinem Roman „Schrödingers Grrrl“ setzt du dich auch mit dem Thema auseinander, indem du genau die Klischees anwendest, die man unteren Klassen zuschreibt, zum Beispiel das Faulsein. Warum hast du diesen Weg gewählt?

Ich werde sehr oft gefragt, warum der Roman Klischees bedient. Der Punkt ist vielleicht, die Frage auf die Leser*in zurückzuwerfen, was man daran als Klischee empfindet. Oder warum es einem auf die Nerven geht, wenn jemand ein Klischee verwendet.

Bücher der Autorin Marlen Hobrack. Foto: Jan Kaefer

Eine Funktion des Klischees ist, uns soziale Situationen und Personen, die wir noch nicht kennen, zu helfen einzuordnen, denn wir haben vermeintlich immer schon ein Bild davon, wer jemand ist. Die Aufgabe ist es immer, hinter das Klischee zu gucken. Ich hätte es zu leicht gefunden, zu versuchen einen Roman zu schreiben, der jedes Klischee widerlegt. Also zum Beispiel, dass alle Menschen in Armut eigentlich edelmütig und gut sind und nur von der Gesellschaft gequält werden.

Meine Hauptfigur Mara ist aber ambivalent. Sie hat ihre Probleme, sie ist depressiv, sie weiß nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Sie ist keine fehlerlose Heldin. Das wäre als literarische Figur viel zu langweilig.

Beides spielt in dem Roman eine Rolle: Wie sie selbst als Klischee wahrgenommen wird und welche Klischees sie über andere Menschen hat, die sie vielleicht gar nicht reflektieren kann. Weil sie noch nie darüber nachgedacht hat. Weil sie immer in dieser sehr oberflächlichen Instagram-Bubble rumhängt, wo die Menschen genau die Bilder und Klischees verkörpern, die wir von ihnen sehen wollen.

Ein Klischee wirft einen ja auch auf sich selbst als Leser*in zurück. Man fragt, warum man genau dieses Bild von einer Person jetzt hat.

Einige Leser*innen haben angemerkt, dass Mara ein Klischee einer jungen Frau ist. Wenn man gleichzeitig das Klischee vom alten weißen Mann bemüht, sind die meisten damit d‘accord, weil man da ja auch so ein Bild hat. Je nach politischer Meinung und eigener Positionierung, also ob man jung oder alt ist, stört man sich am einen oder am anderen.

Das ist auch ein Punkt des Romans: Alle kriegen ein bisschen ihr Fett weg. Ich hoffe auch, dass die Leserinnen und Leser das nicht zu allzu ernst lesen, denn die Funktion ist ja auch, die Klischees zu hinterfragen.

Das Schwierige an Klischees ist, dass man sie nicht zu viel bedienen darf, sonst wird es langweilig. Du bist in deinem Buch sehr weit an die Grenze gegangen. Wie findet man diese Grenze?

Die Figuren dürfen ja wachsen. Sie bleiben in ihrer Ambivalenz menschlich und sie entwickeln sich ein Stück weit. Selbst von dem mittelalten weißen Mann, dem Agenten, sagen mir viele Leser*innen, dass sie ihn sehr mochten. Man muss seinen Figuren erlauben, sich über das Klischee hinaus zu entwickeln und Mensch sein zu dürfen. Und eine überzeugende Psychologie zu haben, die erklärt, wie das Klischee zustande kommt.

Um ein Beispiel zu nennen: Meine Protagonistin ist depressiv. Sie ist antriebslos, sie sucht gar nicht erst nach einem Job. Man könnte da auch die Situation der Arbeitslosigkeit an sich hinterfragen, in der man auf einen sehr kleinen Sozialraum zurückgedrängt wird, in dem man wenig Bewegungsspielraum hat und von Ämtern und Behörden drangsaliert wird. Vielleicht macht diese Situation etwas mit den Menschen. Vielleicht ist die Antriebslosigkeit nicht nur die Vorbedingung, sondern ein begleitender Faktor der Arbeitslosigkeit, der durch den psychischen und ökonomischen Druck entsteht. So im Sinne, ich muss jetzt einen Job finden, sonst steht mir eine Hartz-IV-Kürzung ins Haus.

Hattest du das Gefühl in Besprechungen und Lesungen, dass die Leser*innen diese Intentionen verstanden haben?

Ich denke schon. Es ist ja sehr Haudrauf, sehr offensichtlich. Ein literarischer Text, der sehr offensichtlich mit einem Thema oder einem Effekt spielt – da steckt wahrscheinlich eine Absicht dahinter. Es haben auch gar nicht alle als Klischee empfunden. Ich habe aber auch eine Instagram-Kritik gelesen, da stand drin, dass die Person das gar nicht lesen konnte, weil die Protagonistin sie so wütend gemacht habe. Weil sie so eine faule Arbeitslose sei.

Was sind so deine Lieblingsbücher der Klassenliteratur?

Natürlich habe ich Autor*innen wie Annie Ernaux oder Didier Eribon gelesen, die für das Nachdenken über Klasse in der Literatur stehen. Ich zitiere auch bell hooks in „Klassenbeste“ immer wieder, weil ich finde, dass ihr Blick für die Differenzen und Überlagerungspositionen – da wo Klasse, Geschlecht, race sich überlagern – so geschärft ist.

Beispielsweise aber auch Daniela Dröscher. Es gibt viele Autoren, die diese Themen immer wieder aufwerfen. Ich finde es spannend zu sehen, dass das Nachdenken über Klasse jeweils ein anderes ist, je nachdem in welchem System man aufwächst, ob man in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland lebt

Das sind alles Klassengesellschaften aber mit einem unterschiedlichen Grad an Durchlässigkeit für Aufsteiger und mit einem unterschiedlichen Grad an Bildungsmöglichkeiten für Kinder aus Arbeiterhaushalten.

Wenn wir zum Thema Klassismus zurückkommen: Schon sprachlich reiht es sich in Sexismus, Rassismus und so weiter ein. Für diese ganzen „Ismen“ gibt es eine neoliberale Art der Betrachtung, die weniger auf eine Revolution und das Ändern der Verhältnisse als vielmehr auf Repräsentation innerhalb der Verhältnisse abzielt. Also dass der Erfolg dann ist, wenn beispielsweise eine Frau dann CEO eines Großkonzerns wird. Gibt es diesen Aspekt auch im Klassismus?

Natürlich gibt es diese Aufstiegserzählungen: Ach guck mal, das ist der Sohn einer Putzfrau und jetzt hat er es zum Bundeskanzler geschafft oder zum Vorstand eines Unternehmens. Das ist genau die Idee, die du beschrieben hast, dass wenn ein paar Leute aus der Arbeiterklasse aufsteigen oder ein paar schwarze Personen oder Frauen Präsident werden, dann hätten wir alle Probleme mit diesen „Ismen“ gelöst.

Aber es gibt dieses System, das ganz prinzipiell auf genau diesen Klassenschranken basiert, genauso wie auf Sexismen oder Rassismen. Ich würde sagen, da ist die Benachteiligung aufgrund von Klasse sogar überdeterminierend. Denn wir haben gesehen, dass man als Schwarzer Präsident der USA werden kann oder als Frau Vizepräsidentin oder als Frau CEO von Facebook oder Yahoo.

Die USA zeigen das nochmal ganz besonders, weil der Kapitalismus dort besonders entfesselt ist. Es ist quasi unmöglich, aus einem Trailerpark zu kommen und auf ein Ivy League College zu gehen, weil das unglaublich viel Geld kostet, man ein Stipendium braucht und die Möglichkeit, auf eine gute Schule zu gehen, die einen überhaupt erst darauf vorbereitet, auf so ein College zu gehen.

Klasse ist da nochmal deutlich dominanter. Sie überdeterminiert Rassismus oder Sexismus, was aber nicht heißt, dass diese weniger relevant sind.

Du schreibst in deinem neuen Buch ja auch, dass man sich einen Kapitalismus ohne Rassismus oder Sexismus denken kann, aber nicht ohne Klassen. Ich habe den Eindruck, dass eine Moralisierung und Neoliberalisierung in den Feminismus einzieht, gerade wenn er Klassenlinien ignoriert.

An dem Thema arbeite ich mich seit einigen Jahren ab. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass Feministinnen lange nicht gesehen haben, dass für eine Frau der Arbeiterklasse das Hausfrausein etwas ganz anderes bedeutet als für eine Frau der oberen Mittelklasse, die vielleicht einen Universitätsabschluss hat und zu Recht darauf hoffen kann, Karriere zu machen.

Man muss dann immer fragen, ob es denn für eine Supermarktkassiererin wirklich so ein schweres Schicksal wäre „nur“ im Haushalt für die eigenen Kinder zu sorgen oder ob man das Thema nicht je nach Klassenlage betrachten müsste.

Es gibt viele verschiedene feministische Strömungen. Der neoliberale Feminismus wurde mittlerweile abgelöst. Er war in den 2000ern und 2010ern sehr stark mit dem Lean-In-Modell mit dem Motto „Du musst dich nur anstrengen, dann kannst du alles schaffen“. So als gäbe es keine Strukturen oder irgendetwas, das uns zurückhält.

Diese Art von Feminismus ist im weitesten Sinne schon durchschaut. Trotzdem bleibt ein Modell, wonach etwa Frauen gleichviel in Vollzeit arbeiten sollen wie Männer, damit sie in der Rente nicht von den Männern abhängig sind. Das befragt aber gar nicht die Möglichkeiten, in der bestehenden Arbeitswelt Vollzeit zu arbeiten, wenn man vielleicht zwei kleine Kinder hat. Warum wird dieses gleichstellungspolitische Ziel nur daran festgemacht, wer wie viel in Vollzeit arbeitet?

Das folgt ja auch sehr der Logik, dass Arbeit immer den Vorrang haben muss in unserer Lebensgestaltung. Das ist ein sehr kapitalistischer, aber nicht nur neoliberaler Blickwinkel. Auch in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung spielte immer die Idee eine Rolle, dass Arbeit das wichtigste ist. Dafür nehmen wir sogar Lohnkürzungen in Kauf, Hauptsache, wir sind in Arbeit.

Die Arbeit definiert in einer kapitalistischen Gesellschaft so eine große Rolle in unserem Leben, dass sie eben zum Druckmittel werden kann, unabhängig von Geschlecht und Klassenlage.

Gerade in Deutschland gibt es ja auch zwischen Ost und West ganz massive Unterschiede. Für die Frauen in meiner Familie war es nie eine Frage, ob sie arbeiten gehen oder nicht. Das ist im Westen ganz anders.

Bei einer Lesung in Frankfurt am Main sagte mir vor kurzem eine hochschwangere junge Frau, sie wolle arbeiten gehen, wenn das Kind ein Jahr alt werde. Sie müsse mit ihrer Mutter und Schwiegermutter aber heftig diskutieren, ob man das dem Kind zumuten könne. Ich glaube, die meisten ostdeutschen Frauen würden sagen, dass man darüber gar nicht diskutiert.

Ich habe es bisher als völlige Normalität aufgefasst, dass Mütter arbeiten und es nicht hinterfragt. Das muss man problematisieren. Man muss fragen: Ist es so normal und zuträglich, wenn man eine 40-Stunden-Schicht schiebt und dazu noch die Kinder zu versorgen hat.

Du schreibst in „Klassismus“, dass viele Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen. Momentan wird viel über die AfD diskutiert, vor allem über Rassismus und Remigrationspläne. Dass es eine durch und durch neoliberale Partei ist, fällt oft hinten runter. Dass sich viele Menschen durchs AfD-wählen selbst ins Knie schießen, wird kaum besprochen, obwohl es seit 2016 Studien dazu gibt. Was denkst du, warum das so ist?

Dieses Phänomen ist sehr bemerkenswert. Es gilt nicht nur für die AfD in Deutschland. Es gilt auch für die Republikaner in den USA. Die Menschen, die am meisten von demokratischer Politik profitieren würden, rein ökonomisch und sozial, lehnen diese Politik ab.

Was hier eine Rolle spielt, ist das Thema Anerkennung, also die Anerkennung oder Nicht-Anerkennung eines bestimmten Lebensstils. Dieses Thema spielt gerade innerhalb der ostdeutschen Arbeiterklasse eine Rolle, die oftmals sehr brüchige Biographien nach 1980 hatte und in der man das Gefühl hat, man hat ökonomisch und sozial nicht das erreicht, was man hätte erreichen können, wenn man westdeutsch gewesen wäre. Wenn man sich die Menschen anschaut, dann denkt man schon, dass sie nicht wenig erreicht haben und nicht arm dastehen. Aber es gibt dieses Gefühl, dass es nicht genug ist.

Und das zweite Thema ist, das hast du sehr schön gesagt, dass die AfD im Kern eine neoliberale Partei ist. Ich denke, dass viele der Menschen, die sie wählen, eigentlich neoliberale Politik ablehnen. Ich denke, dass ein Teil des Problems ist, dass traditionell linke Parteien wie einstmals die SPD neoliberale Kerngedanken übernommen haben und damit ihrer Klientel eigentlich kein Angebot mehr machen. Beziehungsweise, dass sie lange nicht verstanden haben, dass ihr Angebot für die „Mitte“ ihr eigentliches Wählerpotenzial ausschloss.

Und auch wenn man eine Partei wie Die Linke wählt, ist im Osten das Potenzial zur Veränderung der Gesellschaft nicht gegeben. Die Linke hatte zwar im Osten lange Zeit starke Ergebnisse und war so etwas wie eine Volkspartei. Auf Bundesebene haben sie jedoch nie etwas erreicht, weil gesagt wurde, dass man mit ihnen nicht zusammenarbeiten könne.

Ich glaube, dass die Menschen nicht ganz doof sind, wenn sie trotz der vielen sozialen Inhalte im Parteiprogramm, verstehen, dass die Grünen eine Partei für akademische, urbane, gut-verdienende Elite ist. Das wissen auch die Grünen-Mitglieder, die ich kenne. Sie sehen, dass man viele Menschen nicht über die Frage Veggie Day – ja oder nein? erreicht.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 122, VÖ 08.03.2024. Foto: LZ
Cover Leipziger Zeitung Nr. 122, VÖ 08.03.2024. Foto: LZ

Ich glaube, dass die Unzufriedenheit vieler Menschen so groß ist, dass sie aus Protest etwas wählen, um den etablierten Parteien wehzutun. Und man tut ihnen ja auch weh. Man sieht, wie sie sich winden, wie sie versuchen, eine Strategie gegen die AfD zu finden. Wie sie debattieren, wie sie spalten, wie innerhalb der CDU diskutiert wird, ob man eine Brandmauer zur AfD hält oder nicht. Das ist Sand im Getriebe dieser Parteien. Insofern hat jeder Protestwähler recht, wenn er sagt, hier bringe er etwas im eingespielten politischen Gefüge durcheinander.

Es ist natürlich trotzdem die falsche Wahl. Was mich aber noch viel mehr beunruhigt, ist diese Tendenz in meiner Online-Bubble aus Autoren und Journalisten zu sagen: „Wenn die Rechts wählen, reden wir nicht mehr mit denen“. Es gibt natürlich einen klaren rechtsradikalen Kern unter den AfD-Wählern. Das sind dann die, die früher beispielsweise NPD gewählt haben. Das AfD-Potenzial liegt heute aber in Sachsen ein Dreifaches über dem, was die NPD erreicht hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Rechtsradikalen alle aus den Löchern kamen in den letzten Jahren.

Es ist kein Zufall, dass mit dem Erstarken bestimmter neoliberaler, kapitalistischer Strukturen und Ideen Rechte Aufwind kriegen. Zum Beispiel nach der Banken- und Finanzmarktkrise, bei der wir alle gesehen haben, dass die Verluste von der Gesellschaft aufgefangen wurden und die Gewinne privatisiert wurden. Wenn man da kein gutes politisches Angebot schafft, sondern sagt, es sei alternativlos und man müsse dies und jenes jetzt für die Märkte tun, dann sind die Menschen natürlich frustriert.

Dabei verschärfen gerade diese neoliberalen Strukturen auch die Abstiegsängste, die viele Menschen haben.

Ich kenne viele Leute, die heute in ihren 30ern sind und nicht unbedingt Angst haben, ihre Arbeit zu verlieren, aber die wissen, dass sie sich nie ein Haus oder eine Wohnung in einer Großstadt leisten können. Das sind Dinge, die ihre Elterngeneration noch erreichen konnte. Im Osten gibt es zudem die Frustration, weil die Familien nie Immobilien oder Vermögen aufbauen konnten aufgrund des Umbruchs nach der Wende.

Aufgrund der Dauerkrisen in den letzten Jahren und Jahrzehnten, von der Finanzmarktkrise über den Ukraine-Krieg und alle ihre Folgen, wird die Unsicherheit, ob es einem selbst und den eigenen Kindern zukünftig noch gutgehen wird, politisch instrumentalisiert. Von den etablierten Parteien wird diese Unsicherheit aber gar nicht aufgefangen. Man kann hier nicht nur den Medien Meinungsmache in die Schuhe schieben. Es muss auch politisch etwas passieren.

Hast du den Eindruck, dass da ein kultureller Aspekt, so etwas wie Werte oder Moral, vielleicht das, was du Habitus nennen würdest, mit in die Gemengelage hineinspielt?

Das spielt auf jeden Fall eine Rolle. Allein bei der Rede vom „alten weißen Mann“, die in den letzten Jahren so virulent geworden ist, haben wir alle ein Bild vor Augen und wissen, wer gemeint ist. Das ist jemand, der über viel ökonomisches und kulturelles Kapital verfügt, der Dinge bestimmt und ordnet und der einen erheblichen Status hat. Wir wissen jedoch, dass nicht jeder mittelalte weiße Mann in dieses Bild fällt. Es ist eine Figur, ein Klischee.

Ich denke, dass wenn Menschen aufgrund von Faktoren, auf die sie keinen Einfluss haben, wie die Tatsache, ob sie ein Mann sind oder als Mann gelesen werden, ob sie der Arbeiterklasse oder der akademischen Mittelklasse angehören, in Schubladen eingeordnet werden, Frustration entsteht. Dieser Frust entsteht aus der fehlenden Anerkennung, der Ignoranz oder dass man über einen Kamm geschoren wird.

Beim Thema Gender gab es in den letzten Jahren eine enorm progressive Debatte, die die Politik beeinflusst hat. Gleichzeitig haben viele Menschen das Gefühl, dass ihnen das alles viel zu schnell geht und sie nicht verstehen, worum es geht. Das ist keine Boshaftigkeit oder Ignoranz. Die Menschen waren vielleicht nur noch nie auf TikTok oder Instagram, auf denen das Thema Gender niederschwellig vermittelt wird. Wenn man die Debatten nur im Fernsehen verfolgt, fragt man sich schon, was das jetzt mit einem zu tun hat.

Und wenn man gleichzeitig das Gefühl hat, dass andere wichtige gesellschaftliche Themen nicht genug besprochen werden, dann fühlt man sich vielleicht abgehängt. Sowohl ökonomisch als auch ideell oder kulturell.

Letztlich geht es immer um Kapitalismus und die Klassenfrage. Es ist aber leichter, gegen Gendertoiletten zu polemisieren, weil ich da auf einen Blick sagen kann, ob ich dafür oder dagegen bin. Aber bin ich für die Erhöhung des Leitzinses? Da muss ich mich erst einmal informieren.

Bei vielen Lesungen in thüringischen oder sächsischen mittelgroßen Städten, wo das Publikum älter ist, sehe ich das auch.

Welche Rückmeldungen bekommst du dort?

Im Osten merke ich immer wieder, dass die Leute einen Redebedarf haben. Oftmals kommen sie an mit der Haltung: Ihr Berliner Journalisten wisst doch gar nicht, wie es uns hier geht. Ich bin keine Berliner Journalistin, aber ich weiß, was sie meinen. Es gibt in dieser Journalisten-Bubble ein fehlendes Verständnis dafür, was es heißt in der „Peripherie“ zu leben und vielleicht nicht über das neueste Theaterstück, sondern über die neuesten Einbrüche im Dorf nachzudenken.

Ganz oft wünschen sich die Leute, dass man ihr alltägliches Leben abbildet. Das kann man belächeln, aber man sollte es nicht, denn für die Menschen ist einfach etwas anderes wichtig.

In der Hinsicht ist es gut, wenn Politiker*innen Bürgerdialoge anbieten. So funktioniert zwar die Politik nicht, aber auf symbolischer Ebene ist es gut, zu bestätigen, dass die Leute existieren und dass man ihren Anliegen zuhört.

Gleichzeitig sind gerade die meisten AfD-Wähler*innen gar nicht so abgehängt.

Das stimmt. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Menschen, die wirklich in Armut leben, in aller Regel gar nicht wählen gehen. Es ist eine Mischung aus Abstiegsängsten und ein schwer in Worte zu fassendes Unbehagen gegenüber Wirtschaft und Politik, das sich im Protestwählen äußert. Und man kann den Finger nicht in die Wunde legen, weil man gar nicht weiß, worum es geht.

Zum Beispiel wurde jahrelang von Wirtschaftsexpert*innen erzählt, dass bei der Einführung des Mindestlohns die Wirtschaft kollabiert. Das ist sie nicht. So etwas verwirrt natürlich, da kommt man nicht mehr mit.

Viele werden jetzt natürlich von der Wagenknecht-Partei angezogen. Sie schließt die Lücke im deutschen politischen Programm: Eine sozial-linke Ausrichtung, aber mit konservativen Werten. Das kann man problematisch sehen, in dem Sinne, dass Grenzen dichtmachen keine Lösung für alles und keine linke Antwort ist. Allerdings gibt es Menschen das Gefühl, sozial aufgefangen zu werden, allerdings ohne ein allzu offenes Gesellschaftsbild, in dem sich die Menschen eben noch wiederfinden können. Das als Populismus abzutun, wäre zu einfach.

Lass uns konkret wieder auf dein Buch kommen: Du beschäftigst dich mit ganz unterschiedlichen Ansätzen – Marx, Bourdieu, britischem Reality-TV: Wen hattest du als Leser*in im Kopf?

Ich habe mich mit den existierenden Einführungen zum Thema Klassismus schwergetan. Ich hatte die Hoffnung, dass es Menschen gibt wie mich, die etwas über Klassismus lesen wollen, ohne in ein einfaches Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen.

Ich sitze auf vielen Podien, auf denen es um Klassismus, Rassismus und Sexismus geht. Da gibt es manchmal ein verkitschtes Menschenbild, das so tut, als ob Menschen aus der Arbeiter- oder Armutsklasse Heiligenfiguren seien, anstatt individuelle Personen mit mehr oder weniger Moral.

Das wollte ich aufbrechen. In vielen Einführungen habe ich beispielsweise gelesen, dass Klassismus immer von oben nach unten funktioniert. Das ist mir zu banal, allein schon, weil beispielsweise die Mittelschicht total ausdifferenziert werden muss: Es gibt Menschen mit oder ohne akademischen Abschluss, es gibt den klassischen Facharbeiter und unterschiedlichste Berufsgruppen. Die Idee, dass das eine geschlossene Klasse wäre, finde ich problematisch.

Meine Herangehensweise war dann etwas eklektisch. Da kommt die Kulturwissenschaftlerin in mir durch: Ich glaube, dass viele Alltagsphänomene, wie die britischen TV-Show, die ich beschreibe, uns vieles über die Menschen und ihre Vorstellungen verraten. Und auch, wie Klasse im Alltag aussieht.

Du sagst ja auch selbst, dass die eigene Sichtweise und die eigenen kulturellen Bezüge sehr die Wissensproduktion beeinflussen.

Ja. In der englischen Sichtweise beispielsweise war die Arbeiterklasse sehr lange sehr stolz, bis sie durch Margaret Thatcher in den Abgrund gestürzt wurde. Da haben viele politische Enttäuschungen und Ignoranz eine Rolle gespielt, die dann schließlich zum Brexit führten. Denn es gab die Idee: Wenn man zurück zur nationalen Souveränität kommt, kann man auch die alten Klassenlagen wiederherstellen.

Zum anderen liebe ich einfach englische Serien (lacht).

Hast du eine Lieblingsserie?

„Obsessive Compulsive Cleaners“! Ich zitiere sie in dem neuen Buch. Dort gehen Menschen mit Putzzwang zu Menschen, die man als Messies bezeichnen würde, die also Probleme haben, weil sie horten oder kaufsüchtig sind. Es geht dort jedoch stets um die Konfrontation zwischen Klassen. Die Putzsüchtige ist zum Beispiel aus der Arbeiterklasse und der Messie ist jemand, dessen Familie seit Generationen über Reichtum verfügt.

Man bekommt immer Einblick in die Wohnungen. Es löst die Klassenklischees auf. Und es ist kein bloßstellender Blick, sondern es geht viel um das psychologische Verständnis der Zwangsstörungen der Menschen.

Auch Pathologisierung und Psychiatrisierung von Menschen unterer Klassen sprichst du in deinem Buch an.

In Deutschland gibt es die Vorstellung, dass arme Menschen schmutzig und dreckig sind. Das ist ein Stereotyp aus dem 19. Jahrhundert, das schon in der Eugenik eine Rolle spielt. Im 19. Jahrhundert hatten arme Menschen tatsächlich keine andere Wahl, als schmutzig oder dreckig zu leben. Seitdem hält sich dieses Klischee. In meinem Roman ist Protagonistin auch unordentlich. Das hat aber nichts mit ihrer Klassenzugehörigkeit zu tun, sondern mit ihrer Psyche und dass es ihr nicht gutgeht.

Welches Fazit ziehst du aus deinem Buch?

Es hilft nichts, wenn die Menschen, die sich für reflektiert halten, dabei stehenbleiben, ihre Privilegien zu checken. Also festzustellen: ich bin privilegiert, andere nicht. Davon ändert sich gesellschaftlich erst einmal gar nichts. Es geht darum, in politische Debatten und Entscheidungen einzuwirken.

Natürlich lässt sich eine Einsicht nicht einfach in politisches Handeln übersetzen. Wir (die Wahlbürger) können ja nicht einfach so die Gesetze ändern. Aber wenn es zum Beispiel um Rentenpolitik geht, können wir einfach mal unterschiedliche Klassenbrillen aufsetzen und uns fragen, ob hier ein Arbeiter eine andere Position als ein Akademiker hat.

Es reicht nicht, sich zu seinen Privilegien zu bekennen. Man muss konkret daran arbeiten, dass sich gesellschaftlich etwas ändert, egal ob etwa in der Arbeitslosenpolitik oder der Rentenpolitik.

Ich erlebe es oft auf Podien, dass alle Arbeiterkinder sich erzählen, wie schwer sie es hatten. Es ist gut, die Strukturen zu erkennen, die einem das Leben schwermachen. Die Gefahr ist aber, dabei stehenzubleiben, sich gegenseitig das Leid zu klagen. Ich würde mir da eine kämpferische Stimmung wünschen. Man muss mit Wut rausgehen und diese Wut in politisches Handeln übersetzen.

Also doch wieder Klassenkampf?

Klassenkampf, auf jeden Fall!

„Von Bourdieu bis britisches Reality-TV: Autorin Marlen Hobrack im Interview“ erschien erstmals im am 08.03.2024 fertiggestellten ePaper LZ 122 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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