Am 16. Oktober veröffentlichte die Bundesagentur die Ergebnisse einer von ihr beim Institut für Demoskopie Allensbach in Auftrag gegebenen Studie. Das erwartbare Ergebnis veröffentlichten dann auch alle fixen Medien mit dicken Überschriften: "Vorurteile gegenüber Arbeitslosen in der Grundsicherung ('Hartz IV') sind in großen Teilen der Bevölkerung weit verbreitet", hieß es darin.

“Dies ist ein zentrales Ergebnis der Umfrage ‘Das Bild der Bevölkerung von Hartz IV-Empfängern’ des Instituts für Demoskopie Allensbach. Die von der BA in Auftrag gegebene Erhebung zeigt, dass 57 Prozent der Deutschen denken, Hartz IV-Empfänger wären bei der Arbeitssuche zu wählerisch, ebenso viele halten sie für schlecht qualifiziert. Über die Hälfte der Befragten geht davon aus, dass sie überhaupt nicht aktiv nach Arbeit suchen und nichts zu tun haben. Rund 40 Prozent glauben, Hartz IV-Empfänger wollen nicht arbeiten.”

So weit der Text der Meldung der Bundesagentur. Kein Wort dazu, welche Rolle die Bundesagentur selbst dabei spielen könnte, dieses Bild zu erzeugen.

“Die Allensbach-Umfrage zeigt, dass sich in der Bevölkerung Irrtümer gegenüber Hartz IV-Empfängern leider hartnäckig halten”, behauptete denn auch Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der BA, unverfroren und gedruckt. “Der vermeintliche Makel ‘Hartz IV’ und die damit verbundenen Vorbehalte gegenüber Arbeitsuchenden erschwert die Vermittlung ins Berufsleben erheblich. Natürlich haben wir in der Grundsicherung nicht nur Olympioniken. Es sind Menschen mit Brüchen in der Erwerbsbiografie, mit Ecken und Kanten. Aber genau das kann sie auch interessant für Unternehmen machen. Der Großteil von ihnen ist hoch motiviert und verdient eine zweite Chance. Ziel muss es daher sein, diese Vorurteile abzubauen und über die Potenziale von Langzeitarbeitslosen aufzuklären.”

Ursachenforschung sieht anders aus. Man ist ja gut, seit 2005 auch noch exzellent, selbstgeprüft und bestens aufgestellt.

Was tut man also? – “Aus diesem Grund führt die BA auch in diesem Jahr die Jobcenter-Kampagne ‘Ich bin gut’ fort, bei der die Motivation und das Engagement von Arbeitslosen im Mittelpunkt stehen. Die Kampagne wurde 2011 gestartet und erzählt Erfolgsgeschichten ehemaliger Hartz IV-Empfänger und die ihrer heutigen Arbeitgeber.”

Eine Kampagne, die auf Marketing-Art genau das erzählt, was das Bauchgefühl den von Allensbach befragten 1.558 Personen auch schon sagte: Die Leute da in “Hartz IV” (erstaunlich, dass die Bundesagentur für Arbeit diese Formel sieben Jahre nach Einführung dieses seltsamen Instrumentes tatsächlich ohne Anführungszeichen benutzt) müssen erst motiviert werden. Was im neueren Effizienz-Ton auch nur bedeutet: Die sind zu faul.

Und nicht nur “die Bevölkerung” denkt so. Noch viel tiefer ist dieses Denken in den Jobcentern selbst verankert. Hier gehört es sogar zum Arbeitsinstrumentarium, obwohl das Bundesverfassungsgericht den viel diskutierten Sanktionsparagraphen 31 im SGB am 18. Februar 2010 eigentlich für verfassungswidrig erklärt hat. Das, was man so landläufig “Hartz IV” oder “Arbeitslosengeld II” nennt, ist eine “Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Leistungsberechtigte”. Sie sichert das Lebensminimum all derer ab, die sich durch ihrer Hände (oder Köpfe) Arbeit nicht selbst ernähren können. Wer hier kürzt und sanktioniert, greift in die Lebenssicherung der Betroffenen ein.
Doch Politik, Arbeitsagentur und die kooperierenden Kommunen stellen sich einfach taub. Im Gegenteil. Im ersten Halbjahr 2012 wurde ein neuer Sanktionsrekord verbucht, obwohl die Arbeitslosenzahlen im ganzen Land gesunken sind. Und das Jobcenter Leipzig steht unter den Sanktionsverhängern ganz weit oben.

“Im ersten Halbjahr 2012 wurden von den Jobcentern 520.792 neue Sanktionen verhängt, oder genauer, durch die amtliche SGB II-Sanktionsstatistik erfasst”, fasst Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V. (BIAJ) kurz zusammen, was die Jobcenter in den ersten sechs Monaten 2012 vollbracht haben. “Ein ‘neuer Rekord’ – etwa 44 Prozent (!) mehr als im ersten Halbjahr 2009 – über den in jüngster Zeit viel berichtet wurde. 69 Prozent dieser Sanktionen im ersten Halbjahr 2012 erfolgten wegen eines Meldeversäumnisses. Im ersten Halbjahr 2009 galt dies für 57 Prozent der Sanktionen der Jobcenter. Allein 13,7 Prozent der Sanktionen im ersten Halbjahr 2012 wurden in der Bundeshauptstadt verhängt. Im ersten Halbjahr 2009 betrug Berlins Anteil an den neu verhängten Sanktionen in der Bundesrepublik Deutschland 9,7 Prozent. Eine Verdoppelung der Sanktionen in Berlin (‘Sanktionsoffensive’) machte diesen zweifelhaften Erfolg möglich – von 35.103 Sanktionen im ersten Halbjahr 2009 auf 71.108 im ersten Halbjahr 2012.”

Schröder unterscheidet zwischen erfassten und nicht erfassten Sanktionen zu Recht, denn vielen Betroffenen werden auch Gelder gestrichen, ohne dass es als Sanktion erklärt wird. Mal ist es die Energierechnung, die die Jobcenter nicht in voller Höhe übernehmen wollen, mal die Miete für die Wohnung, weil sie den amtlichen Grenzvorgaben nicht entspricht. Das “Hartz IV”-Gesetzpaket ist ein dicker Paragraphen-Wälzer, der penibel jede Möglichkeit aufzählt, den SGB-II-Empfängern die Leistungen zu kürzen. Alles verfassungswidrig. Doch so lange sich nicht einmal der Gesetzgeber bemüht, den vom Bundesverfassungsgericht inkriminierten Paragraphen zu streichen, wird der § 31 SGB von den Jobcentern auch dazu genutzt, die Sparvorgaben der Bundesregierung zu erfüllen.

In Leipzig koppelt sich das ja so schön mit den parallel vertraglich vereinbarten Sparvorgaben der Stadt. Die wichtigste Feststellung, die Schröder nach Auswertung der Juni-Sanktionsstatistik treffen kann: Es gibt kein System hinter den Sanktionen. Es wird überall anders sanktioniert. Es herrscht im Grunde reine Anarchie.

Auffällige Feststellung Nummer 1: “Die Großstadt mit der höchsten Hartz IV-Sanktionsquote bezogen auf alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (Arbeitslosengeld II) ist Leipzig (Eigenwerbung: ‘Leipziger Freiheit’): 5,3 Prozent. Die Großstadt mit der höchsten Sanktionsquote bezogen auf die arbeitslosen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist die Bundeshauptstadt Berlin: 7,5 Prozent.”

Auch das eine Unterscheidung, die dem Laien nicht gleich auffällt: erwerbsfähige Leistungsberechtigte sind nicht identisch mit arbeitslosen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Denn Leistungen vom Jobcenter können per Gesetz auch all jene beziehen, die in Vollzeit-, Teil- oder Minijobs zu wenig verdienen, um ihre Existenz damit sichern zu können. Mittlerweile hat sich dafür der Begriff “Aufstocker” eingebürgert.

Die Zahl der Aufstocker stieg in Leipzig von 14.176 im Jahr 2008 auf 15.184 im Jahr 2010. 2012 waren es sogar 22.691.

Und wenn Leipzig im Ranking bei den Sanktionen für erwerbsfähige Leistungsberechtigte auch noch vor der “Sanktionshauptstadt” Berlin rangiert, dann bedeutet das im Umkehrschluss: Auch Aufstocker werden sanktioniert und behandelt wie Leute, “die zu faul zum Arbeiten sind”. Berlin liegt mit einem Koeffizienten von 4,7 Prozent hier sichtbar hinter Leipzig mit 5,3.

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Aber nicht nur in Leipzig herrscht die Sanktionswut. Selbst da, wo es dafür eigentlich keine Gründe – etwa einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit gibt – sanktionieren die Jobcenter drauflos, als gäbe es einen Wettbewerb, bei dem die Jobcenter-Agenten am Jahresende zu einer Sexparty nach Budapest fliegen dürfen.

Schröder: “Ausgerechnet für das nahe regionale Umfeld des Bundesverfassungsgerichts, den Landkreis Karlsruhe, ermittelte die Statistik der Bundesagentur für Arbeit die höchsten Sanktionsquoten aller Kreise: 7,5 Prozent bezogen auf alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und 13,5 Prozent bezogen auf die arbeitslosen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. – Die niedrigsten Sanktionsquoten im Juni 2012: 0,3 Prozent (alle) und 0,4 Prozent (arbeitslose) in der neu zugelassenen “Optionskommune” Solingen (‘Klingenstadt’).”

Die Werte in Diagramme übertragen, ergeben Punktwolken, die sich über die ganze Höhe und Breite des Spektrums verteilen. Das deute, so Schröder, auf reine Willkür bei den verhängten Sanktionen hin.

Schlichte Erkenntnis Nummer 2: “Im Juni 2012 wurden die höchsten Sanktionsquoten (bezogen auf alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten) im Großstadtvergleich ausgerechnet in den drei ostdeutschen Großstädten ermittelt – die höchste in Leipzig (Eigenwerbung ‘Leipziger Freiheit’). Die von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit ermittelten Sanktionsquoten in den Großstädten reichen im Juni 2012 von 0,8 Prozent in Stuttgart und 0,9 Prozent in Essen, zwei neue und zugleich die einzigen Optionskommunen unter den 15 Großstädten, und 2,1 Prozent in München bis 4,7 Prozent in Berlin und 5,3 Prozent in Leipzig. – Drei Jahre zuvor, im Juni 2009, reichten die entsprechenden Sanktionsquoten von 1,4 Prozent in Bremen und 1,7 Prozent in der Region Hannover bis 3,1 Prozent in Dortmund, 3,2 Prozent in Nürnberg 3,3 Prozent in Duisburg.”

Heißt also unübersehbar: Mit sinkender Arbeitslosigkeit hat sich das Sanktionierungsverhalten der Jobcenter verschärft. Und das auch in nicht nachvollziehbarer Systematik. Gleich hinter Leipzig (5,3) und Berlin (4,7) kommt schon das viel gelobte Dresden mit 4,5 Prozent. 2009 lagen Leipzig bei 3,0 und Dresden bei 2,1, Berlin bei 2,7.

Dass die drei ostdeutschen Großstädte so weit vorn liegen, kann natürlich mehrere Gründe haben. In Leipzig kommt eindeutig auch der städtische Versuch dazu, auf Kosten der SGB-II-Empfänger Sparvorgaben für den eigenen Haushalt zu erfüllen, was sich dann mit den Sparvorgaben der Bundesregierung in unseliger Einheit paart. Dazu kommt freilich auch, dass der Arbeitsmarkt deutlich weniger aufnahmefähig geworden ist. Man kann den Versicherten nicht mehr wirklich adäquate Arbeitsplätze anbieten. Man macht trotzdem Druck, weil der politische Druck zum Sparen nicht nachlässt. Es gibt auch in Leipzig kein Konzept zur Förderung nachhaltiger Arbeitsplätze – man schielt nur auf die Zahlen in der Statistik, auch wenn sie als finanzielle oder soziale Belastung an anderer Stelle wieder im Stadthaushalt aufschlagen.

Denn je mehr der motivierten Arbeitslosen in eine Beschäftigung vermittelt sind, umso mehr haben es die Jobcenter-Agenten mit jenen Gruppen zu tun, deren Vermittlungshemmnisse entweder schon von Natur aus hoch sind (niedrige Qualifikation, höheres Alter, Behinderung oder alleinerziehend) oder mit jenen, deren Vermittlungshemmnisse nach Jahren sinnlosen Wartens auf Jobcenter-Stühlen gewachsen sind – den wirklich schon Demotivierten.

Aber in Amtsstuben herrscht auch der unselige Glaube, man könne Menschen auch mit miesen Jobs motivieren, die nicht einmal auskömmlich bezahlt werden. Hinter der Leipziger Sanktionspolitik wird das vollkommene Fehlen einer nachhaltigen Arbeitsmarktpolitik sichtbar. Auch das kann man unter dem von Schröder so gern zitierten Slogan “Leipziger Freiheit” fassen: Während jeder Jobcenter-Kunde damit rechnen muss, dass auch ein kleines “Nein” sofort mit Abzügen seines Monatsfixums bestraft wird, bleibt die politische Ebene im Raum der Freiheit – frei von Verantwortung.

Aber genau daran müsste sich eine humane Politik messen lassen. Aber Leipzig ist in den letzten Jahren ganz friedlich eingeschwenkt auf den von Peter Hartz & Co. ausgegebenen Slogan “Fördern und Fordern”. Dabei ist von Fördern nicht mehr viel übrig geblieben. Weswegen immer mehr Jobcenter-Angestellte wohl das “SGB II” als Förderung begreifen – und dafür fordern sie die bedingungslose Bereitschaft, alle Ansprüche zu erfüllen, die man amtlicherseits stellt. Für die Freiheit, Nein zu sagen, ist da kein Platz.

Die Auswertung des BIAJ:
http://biaj.de/images/stories/2012-10-27_sgb2-sanktionsquoten-ge-zkt-062012.pdf

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