Wer die 250 Seiten dicken Jahrbücher der Stadt Leipzig sammelt – zumindest die aus den letzten 25 Jahren – der bekommt mit der Zeit so eine Art Fieberkurve für die Stadt. Oder sollte man eher sagen: ärztliche Bulletins? Alle mit der versteckten Aussage: Na ja, der Patient hustet zwar, humpelt und darbt ein bisschen. Aber er lebt noch. So dass die Nachricht für den 7. Oktober 2016 lautet: Leipzig zeigt noch beruhigende Lebenszeichen.

Was so ja bekanntlich 1995 nicht zu erwarten war. Da blutete die Stadt regelrecht aus. Das wurde mit dem kräftigen Slogan „Leipzig kommt!“ tapfer konterkariert. Manche glaubten dran, andere nicht. Aber dran gearbeitet, die Stadt wieder auf Touren zu bringen, haben alle. Auch die armen Schweine, die heute mit Hartz IV und Armutsrente dafür bezahlen. Was dann am Ende wieder die Stadt bezahlt, weil die auf SGB II und Grundsicherung Angewiesenen dann alle wieder als Bittsteller auf der Matte stehen.

Und deren Zahl wird wieder steigen, das sei so sicher wie das Amen in der Kirche, stellte am Freitag, 7. Oktober, auch Peter Dütthorn, Leiter der Abteilung Statistik des Amtes für Statistik und Wahlen, fest. Denn nicht nur die heutigen Hartz-IV-Bezieher rutschen im Alter in die Grundsicherung (von 4.038 im Jahr 2011 stieg diese Zahl auf 5.126 im Jahr 2016), sondern auch immer mehr Leipziger, die mit kargen Einkommen in den Ruhestand gehen. Da ist es zwar schön, wenn die Zahl der SGB-II-Empfänger langsam abschmilzt – von 71.292 (2011) auf 66.409 (2015). Aber es ändert nichts daran, dass der wirtschaftliche Aufschwung der Stadt bei einem Teil der Bevölkerung schlicht nicht ankommt.

Trotzdem wächst die Stadt, hat sich zum wirtschaftlichen Knotenpunkt in der Region entwickelt. Während das Jahrbuch auf Seite 64 über die Probleme der Abgehängten und Bedürftigen berichtet, zeigen die Zahlen auf Seite 113 eindrucksvoll, wie die Zahl der Erwerbstätigen steigt: von 238.500 im Jahr 2011 auf 266.100 im Jahr 2015. „Die Zahl der Arbeitsplätze steigt schneller als die der Bevölkerung“, sagt Dütthorn.

Was eigentlich eine Menge über das rätselhafte demografische Phänomen sagt, an dem sich Sachsens Regierung die Zähne ausbeißt. Denn die neuen Arbeitsplätze sind die Haupttriebkraft für die Zuwanderung nach Leipzig. Als hätte hier jemand einen riesigen Magneten aufgestellt. Aber gerade das macht deutlich, dass Wirtschaft und Gesellschaft nur zwei Seiten einer Medaille sind. Wirtschaftliche Stabilisierungsprozesse – und in Leipzig sind sie seit 2005 wirksam – lösen Wanderungsprozesse aus. Da hat OBM Burkhard Jung schon Recht, wenn er das Leipzig von 2016 mit dem von 1900 vergleicht. Auch damals zogen Zehntausende Menschen vom Land in die wachsende (Industrie-)Stadt Leipzig. Und stellten eine konservative Stadtregierung vor dramatische Probleme, denn damit kamen nicht nur teure Herausforderungen auf den Stadthaushalt zu (Wachstum muss bezahlt werden), sondern auch die Angst vor „roten Umtrieben“. Die Arbeiterschaft organisierte sich, die großen Bürger waren regelrecht in Panik.

Zu Unrecht eigentlich.

Der Unterschied: Die Industrie trägt heute nur zu einem kleinen Teil zu diesem Wachstum bei. Die Zahl der Industriearbeitsplätze wuchs nur von 24.216 auf 30.014. Deutlich mehr neue Arbeitsplätze entstanden in der Dienstleistung, in Handel, Verkehr und Gastgewerbe.

Das Schöne am Jahresbericht: Er bringt Zahlen aus unterschiedlichen Quellen. Hätte man nur die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, man würde glatt glauben, die Leipziger würden richtig gut verdienen. In einigen Branchen ist das so. Aber zum Glück gibt es die Bürgerumfragen, die immer wieder sichtbar machen, wie die Einkommenswelten der Leipziger auseinanderklaffen. Nur 45,7 Prozent der Leipziger Erwerbstätigen haben Einkommen über 1.500 Euro netto im Monat. Der Rest lag drunter.

Und wer auf die Armutsgefährdungsschwelle schaut, sieht: Es hat sich nichts geändert. Jeder vierte Leipziger lebte auch 2015 in Armut oder in zumindest prekären Verhältnissen. Berechnet wird das aufgrund des sogenannten Medians, jenem Einkommen, bei dem die Hälfte der Erfassten drüber liegt, die andere Hälfte drunter. Davon werden noch einmal 68 Prozent berechnet, so bekommt man die Armutsgefährdungsschwelle.

Warum wird eine Stadt vom Arbeiten nicht reich?

Das ist ja so eine kleine, störende Frage in der ganzen Jagd auf einen Platz an der Sonne. Sichtlich bekommen nach wie vor viele Leipziger nicht genug Lohn für ihr Arbeiten. Aber auch an Steuern hapert es. Was sichtbar wird, wenn die Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt und den versteuerbaren Umsätzen aufgelistet werden. Oder auch nicht. Einerseits sind die Zahlen drei Jahre alt, andererseits scheint sich kaum was zu bewegen, weil viele Unternehmen in Leipzig nur mit einer Niederlassung vertreten sind und die erwirtschafteten Umsätze andernorts versteuern.

So kleckert auch die Gewerbesteuer nur sachte hinterher, stieg von 189 Millionen Euro im Jahr 2011 auf 271 im Jahr 2014, 2015 waren es dann wieder 243 Millionen. Damit liegt Leipzig noch immer vor Dresden. Aber es ist nur ein Drittel oder Fünftel von dem, was so eine Stadt eigentlich braucht, um ihr Wachstum auch finanzieren zu können.

Was dann wieder die Stadtkrise von 2003/2005 in ein anderes Licht rückt, als Leipzig drohte, regelrecht in Schulden zu ersaufen und ein rigides Haushaltskonsolidierungsprogramm gestartet wurde, das im Grunde bis heute anhält. Eine Stadt dieser Größenordnung, die jahrelang nur 160 Millionen Euro investieren konnte, ist ein Witz. Unter der Ägide von Burkhard Jung wurde die Verschuldung gebremst und mühsam abgebaut zum Teil. Aber das bedeutete eben auch über Jahre ein rigides Sparprogramm bei notwendigen Investitionen.

Dumm nur, dass der Freistaat Sachsen zur selben Zeit selbst ein rigides Sparprogramm initiierte. Leipzig fehlte also gleich doppelt das Geld. Womit die Stadt nicht allein steht. Die Zeche für die Sparprogramme auf Bundes- und Länderebene haben überall die Kommunen bezahlt.

Und trotzdem wachsen die großen Städte, haben sie sich eine Rolle als funktionierende Netzwerkknoten bewahrt, in denen sich Unternehmen aller Branchen ansiedeln. Denn die andere Seite der Wirtschaft ist: Letztlich braucht sie die Menschen, möglichst gut ausgebildet … und da stolpert man natürlich auch wieder. Natürlich bietet der Jahresbericht auch wieder viele Zahlen zur Bildung, zu Hochschulen, Schulen, Kitas. Man sieht die enormen Steigerungsraten bei Schülern – und weiß, das Leipzig mit Schulen bauen gar nicht hinterherkommt. Als würde man in Deutschland solche Sachen wie Bevölkerungswachstum nicht kennen. Als wäre das etwas völlig Neues. Das Geld fließt irgendwo in gigantische Spartöpfe, aber viel zu wenig wird investiert. Was natürlich die zentralen Systeme überlastet. 1.770 Schüler mehr binnen eines Jahres? Das wären eigentlich fünf neue Schulen.

Und das geht so weiter. Man kann ja auch die steigenden Geburtenzahlen anschauen. 400 mehr gab es 2015 als ein Jahr zuvor. Aber auch durch Zuwanderung bekam Leipzig fast 16.000 neue Einwohner.

Ein Blick auf die Studierendenzahl zeigt, warum Leipzig so zieht. Denn die Studierendenzahl steigt sogar wieder. Die Hochschulen haben sich – trotz der rigiden Einschnitte durch die Staatsregierung – ihre Anziehungskraft bewahrt. Zehntausende junger Menschen kommen zum Studium in die Stadt, zehntausende ziehen auch wieder weg. Aber viele bleiben eben da und bereichern das lebendige Milieu. Die Studierenden kommen aus dem kompletten Osten, aber auch aus Bundesländern wie Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen.

Als gäbe es zwei Leipzig untereinander: Eines prosperiert und wird von jungen, gut ausgebildeten Menschen vorangetrieben (die dann, wenn sie mit 30 Jahren endlich Tritt gefasst haben, endlich auch Kinder kriegen), das andere schaut in die Röhre und landet in den Hilfsangeboten der Stadt. Etwa in der wachsenden Zahl von Wohnungsnotfällen, wie auf Seite 78 nachzulesen. Die Wohnungsprobleme fangen nicht bei denen an, die gut verdienen, sondern bei denen, die eben noch mit Ach und Krach über die Runden gekommen sind. Man sieht beide Städte in diesem dicken Jahrbuch. Und sie wollen einfach nicht zueinander passen.

Und sie passen doch. Denn dass die Stadt derart prosperiert, hat mit einer Bevölkerung zu tun, die sehr wohl den entfachten Leistungsdruck kennt und mit aller Kraft versucht, Familie, Job, Karriere und Einkommen unter einen Hut zu bekommen. Diese Leipziger sind – selbst von Stress getrieben – die Motoren des Ganzen. Dahinter mühen sich all jene, die gerade so über die Runden kommen.

Und unten schmort ein gutes Viertel, das schon froh wäre, wenn es irgendwo mitlaufen dürfte.

Bis dato regieren Politiker, die glauben, dass das so sein muss. Aber die Verschiebungen im gesellschaftlichen Gleichgewicht sind unübersehbar. Denn da unten möchte eigentlich niemand landen. Und auf Dauer kann sich eine Stadt wie Leipzig diese zunehmenden sozialen Gemengelagen auch nicht leisten. Denn die fressen die letzen noch verbliebenen Spielräume im Haushalt auf. Natürlich steht auch eine Menge zum städtischen Haushalt drin. Auch Investitionen und die ausufernden Kosten im Sozialen. Die sozialen Leistungen stiegen von 585 Millionen Euro im Jahr 2011 auf 690 Millionen im Jahr 2015. Und das, nachdem die Oberreformer der Republik zehn Jahre lang von „Fördern und Fordern“ geredet haben. Da stimmt etwas nicht. Man kann keine Stadt entwickeln, wenn man ein Viertel der Bürger nicht mitnimmt.

Oder um ins Bulletin-Bild zurückzukehren: Die Stadt insgesamt kommt ganz gut zurecht und geht auch noch nicht am Stock, aber ein Viertel ist sichtlich malade. Aber eine richtige Kur ist auch nicht in Sicht.

Das Statistische Jahrbuch ist im Internet unter www.leipzig.de/statistik unter „Veröffentlichungen“ einzusehen. Es ist zudem für 25 Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) beim Amt für Statistik und Wahlen erhältlich. Voraussichtlich ab Januar 2017 wird die aktualisierte Neuauflage „Statistisches Jahrbuch aktuell“, dann mit Zahlen für das Jahr 2016, online geschaltet (statistik.leipzig.de) und im Laufe des Jahres immer wieder ergänzt. Bestandteil des Statistischen Jahrbuchs ist auch eine Chronik wichtiger auf Leipzig bezogener Ereignisse des Jahres 2015.

Postbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, 04092 Leipzig

Direktbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, Burgplatz 1,
Stadthaus, Zimmer 228

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