Am Donnerstag, 22. Oktober, war Steffen Wehmann, Finanzpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Leipziger Stadtrat, ein bisschen erschrocken. Denn in der LVZ las er auf einmal die Aussage von Finanzbürgermeister Torsten Bonew (CDU), dass "für die Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen 'mehr als 70 Mio. Euro' an der Stadt 'hängen' bleiben" würden.

Aus seiner Sicht eine erstaunliche Aussage. “Erstaunlich deshalb, weil weder der aktuell dem Stadtrat vorliegende Finanzbericht oder auch die dringliche Vorlage (DS 1935) die vermutete (?) finanzielle Dimension der Aufgabenumsetzung widerspiegelt”, sagt er.

Im „aktuellen“ Finanzbericht sei für 2015/16 von einem „Risiko“ von 20 Millionen Euro, in der genannten Vorlage von „außerplanmäßigen Aufwendungen im Ergebnishaushalt… von 15 Millionen Euro“ und „außerplanmäßigen Auszahlungen im Finanzhaushalt … von 5,0 Millionen Euro“ in 2016 die Rede. Das summiert sich zwar, aber nicht auf 70 Millionen Euro. Wobei der Blick ins Ratsinformationssystem zeigt, dass die Vorlagen jetzt quasi im Tagestakt kommen, denn die Stadt muss mittlerweile immer neue Unterkünfte schaffen, die so im Doppelhaushalt überhaupt nicht geplant waren. Deswegen hat sich Oberbürgermeister Burkhard Jung auch ausbedungen, bei entsprechenden Vorlagen sofort – also ohne weiteres Extra-Votum des Stadtrates, der nur einmal im Monat tagt – agieren zu können.

Denn mittlerweile überweist der Freistaat Sachsen so viele Asylsuchende an die Stadt zur Unterbringung, dass jede Gelegenheit, ihnen Unterkunft zu schaffen, auch genutzt werden muss.

Die eilbedürftige Vorlage der Verwaltung vom 15. Oktober spricht es recht unverblümt aus: “Alle verfügbaren Platzkapazitäten für die Unterbringung von Asylsuchenden und Geduldeten in Erstunterbringungseinrichtungen, Wohnhäusern, Übergangsheimen und -wohnungen sowie in Pensionen sind derzeit ausgelastet. Der Freistaat Sachsen hat angekündigt, wöchentlich 200 Flüchtlinge an die Stadt zu übergeben. Um auch in der kalten Jahreszeit die Unterbringung in beheizten Räumlichkeiten gewährleisten zu können ist sofortiger Handlungsbedarf gegeben. Selbst unter vollständiger Ausnutzung aller bisher geplanten Maßnahmen fehlen am Jahresende noch 1.200 Plätze, die noch zu untersetzen wären. Schlimmstenfalls reichen die Kapazitäten bereits im Oktober nicht mehr aus, um die geplanten Zuweisungen unterzubekommen. Um die Durchlaufzeiten der Maßnahmen zu verringern, sind kurzfristig die in den Beschlusspunkten genannten Flexibilisierungen in Kraft zu setzen.”

Augenscheinlich ist das Tempo so hoch, dass auch der Finanzausschuss noch nicht alle Zahlen hat. Der tagt wieder am 26. Oktober, zwei Tage vor der nächsten Ratsversammlung.

“Hier ist der Bürgermeister aufgefordert, dringend und unverzüglich aktuelle Informationen und Zahlen zu dem vorgenannten Thema dem Finanzausschuss und Stadtrat zu liefern”, fordert Wehmann deshalb. “Gleichzeitig unterstützen wir die Forderung des Bürgermeisters nach einer hundertprozentigen Kostenerstattung für die Bewältigung der Aufgaben durch Bund und Freistaat.”

Denn während die Kommunen längst am Limit arbeiten, um für den Zustrom der Asylsuchenden vor dem Winter einigermaßen menschenwürdige Unterkünfte zu schaffen, kündigen Bund und Land zwar immer wieder ihre finanzielle Unterstützung an – aber in der Praxis sieht es dann doch sehr klamm aus, wie Wehmann feststellt.

“Trotz aller Ankündigungen der Bundesregierung und des Freistaates Sachsen bleibt die Hauptlast bei der Bewältigung der hoheitlichen Aufgaben bei den Kommunen, in diesem Fall ganz konkret bei Leipzig. Der Kostendeckungsgrad, d.h. das Verhältnis der aufgabenbezogenen Erträge und Aufwendungen der Stadt, betrug nach den vorläufigen Zahlen für 2014 nur noch ca. 44 %  (Stand: 9/2015: ca. 38 %). Zum Vergleich: 2012 und 2013 waren es immerhin noch ca. 56 % bzw. ca. 46 %.”

Was  natürlich indirekt die Schätzungen des Finanzbürgermeisters bestätigt, denn dann bleiben wohl nicht nur die in der Vorlage vom 15. Oktober bezifferten 30 Millionen Euro an der Stadt Leipzig “hängen”, sondern eine ganze Ecke mehr. Verständlich, dass einige deutsche Bürgermeister mittlerweile sehr unruhig sind und an die Bundesregierung appellieren, ihnen wirklich zu helfen.

Und ähnlich appelliert auch Wehmann: “Daher fordern wir, dass diese immer wiederkehrenden Versprechungen von Bund und Land nun endlich umgesetzt werden und die aktuellen und zukünftigen Aufwendungen für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen auch für unsere Stadt vollständig übernommen werden.”

Vorlage für den Stadtrat: “Weitere Gewährleistung der flexiblen Bewirtschaftung der Haushaltsmittel im Zusammenhang mit der Schaffung von Unterkünften für gemeinschaftliches Wohnen von Asylbewerber/-innen und Geduldeten”

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Es gibt 2 Kommentare

Kleiner Nachtrag.

Es ist gar nicht so schwer zu errechnen, welche Ausgaben auf Deutschland in den nächsten Jahren – natürlich aus Steuergeldern – zukommen werden, wenn nicht grundlegende Änderungen in der Asylpolitik erfolgen. Dieser Betrag ist verheerend!

Weder die Parteien / Politiker, noch die Medien, sind bis heute gewillt, mit solchen Zahlen in die Öffentlichkeit zu gehen. Das habe ich in den letzten Wochen “hautnah” erlebt bzw. erleben müssen!!!!!!!!

Hier mein Leserbrief an die LVZ zu dieser Thematik.
Ich lasse mich überraschen, ob er veröffentlicht wird. Meine Hoffnungen sind nicht sehr groß. Aber manchmal geschehen ja Wunder.

Betreff: Artikel vom 22.10.2015 – Flüchtlingskrise sprengt Haushalt

Mit großer Verwunderung habe ich diesen Artikel gelesen. Nicht wegen der Darlegungen, dass die Flüchtlingskrise Leipzigs Haushalt sprengt. Das konnte jeder ahnen, der logisch denken kann. Das haben außerdem seit Monaten die Spatzen von Leipzigs Rathaus laut genug gepfiffen.

Während selbst in den großen Städten der reichsten Bundesländern der BRD (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen) Informationen und öffentliche bzw. mediale Diskussionen über die finanziellen Belastungen dieser Kommunen erfolgten, war in Sachsen bzw. speziell in Leipzig Friede, Freude, Eierkuchen angesagt. Unfassbar. Von der miserablen Pressearbeit der Stadtverwaltung Leipzig zu dieser Thematik ganz zu schweigen, was nichts Neues ist.

Meine Verwunderung war jedoch deshalb besonders groß, weil der gleiche Journalist, der diesen Beitrag geschrieben hat, noch vor gar nicht allzu langer Zeit ein rosarotes Bild von der Finanzsituation der Stadtverwaltung Leipzig gemalt hatte. Meine damaligen Hinweise wurden von ihm abgebürstet. Was ist das für ein Journalismus? So etwas ärgert mich als Abonnent der LVZ maßlos!

Noch mehr ärgert es mich, dass seit längerer Zeit auch in der LVZ den Randgruppen (z. B. Links- und Rechtsradikalen), die doch nicht einmal 5,0 % der Bevölkerung ausmachen, ein sehr großer Raum überlassen wird, und die “Normalbürger” (also mindestens 95,0 %) scheinbar nicht mehr existieren bzw. deren Ansichten unbedeutend sind. Weshalb eigentlich?

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