Ob Büchermachen im digitalen Zeitalter anders werden wird, ist noch nicht entschieden. Entschieden ist bislang nur eines: Dass die digitale Welt neue Experimentierfelder eröffnet hat. Literatur, Kunst, Manifest verschmelzen. Die Wege vom Autor zum Leser können kürzer sein. Und verrückter. Eyk Henze, der in Leipzig Buchwissenschaft studiert hat, hat extra einen kleinen Verlag gegründet, um die neuen Möglichkeiten auszutesten: die ed[ition]. cetera. Ein Hafen auch für Autoren, die das Experimentieren lieben - wie Francis Nenik.

Ein Pseudonym. Der Autor existiert, gibt seine Identität aber nicht preis. Was man weiß: Er ist ein Leipziger. Vor einem Jahr startete Eyk Henze sein Editions-Experiment, indem er das Experimentalwerk “XO” von Nenik auflegte: 427 Blätter, ungebunden in einer Schachtel, 853 Seiten, nicht durchnummeriert. Man kann die Schachtel erwerben und sich den Freuden eines handlichen Experiments hingeben. Man kann den Text auch direkt aus dem Netz laden. Kostenfrei. Das Experiment ist konsequent. Wie bringt man die Überzeugung, dass freie Lizenzen im Netz die Norm werden, in Verbindung mit der Lust am Büchermachen und Bücherkaufen?

Das ist Henzes Gratwanderung. Verkäuflich wird ein Titel dann, wenn er beim Interessenten den Kaufreiz auslöst, wenn nicht nur der digitale Inhalt gewollt ist, sondern auch die alte, haptische Lust am Schmökern.

Dazu kommt das Grundproblem des modernen Buchhandels: Da er auf Masse und zentralisierte Vertriebskanäle aufgebaut ist, rechnen sich Bücher erst in großen Auflagen. Kleine Auflagen oder gar mutige, experimentelle Literatur machen auf diesem Markt keinen Sinn – sie fahren dem Verleger Verluste ein. Deswegen vertreibt Henze seine Titel auch nicht im Buchhandel. Die Verkaufsmarge würde ihn in den Ruin treiben. Was auch der Grund dafür ist, dass Leser in den Buchläden keine echten Experimente mehr finden.Ob sich das irgendwann rechnet, auch wenn er nur online verkauft, weiß Eyk Henze noch nicht. Da geht es ihm wie mittlerweile einer kleinen Gruppe Leipziger Verleger, die in der Stadt des Buches wieder den Mut zum Experimentieren gefunden haben. Ein Experiment, das hoffentlich seine Leser findet, die noch oder wieder die Lust auf das Noch-Nicht-Genormte ausleben. Neniks Riesen-Roman-Schachtel “XO” gehört ganz bestimmt dazu.

Sein zweites in der ed[ition]. cetera erschienenes Buch auch. Der Titel ist 26 Worte lang, so viele, wie das deutsche Alphabet Buchstaben hat, auch wenn Xanthippe und Yamswurzeln dann nicht wirklich vorkommen. Aber wenn man schon experimentiert, dann richtig, sagte sich wohl der Autor. Und schuf damit eine Wiederauferstehung der Ellenlang-Titel, wie sie mal vor 300 Jahren üblich waren. Drinnen geht es dann eigentlich um die Faszination der deutschen Sprache. Ausprobiert hat es fast jeder schon einmal. Kann man eigentlich ganze Sätze, Texte, Gedichte nur mit Worten bilden, die alle mit dem gleichen Buchstaben anfangen? Und ergibt das dann noch Sinn? Oder fehlen einem dann auf einmal die Worte und das Ganze wird eher nur ein Stammeln?Nach Durchblättern dieses lustvoll illustrierten Bändchens bleibt da keine Frage mehr: Es geht. – Illustriert hat übrigens die junge Leipziger Grafikerin Halina Kirschner dieses Buch. Hier fand zusammen, was in Leipzig lebendig ist. Die Stadt ist bis zur Halskrause angefüllt mit kreativer Experimentierlust. Hier bekommt man sie kompakt in die Hand. Und kongenial, wie es so schön heißt, denn Halina Kirschner zeichnet nicht nur irgendwelche Vignetten, sie setzt die skurrilen Gestalten aus Neniks Texten ins Bild, dass der Leser staunt. Genauso war das Bild vor seinem inneren Auge aufgetaucht beim Lesen.

Wenn noch zu beweisen war, dass selbst beim genussvollen Spiel mit Alliterationen Bilder und Geschichten entstehen, dann wird es hier bewiesen. Nebst der schönen, selten so bunt wahrgenommenen Tatsache, wie reich die deutsche Sprache ist. Und wie schön man damit spielen kann. Und wie schon in wenigen Worten, ohne dass erst einmal ausufernd Landschaftsbeschreibungen gemacht werden müssen, eine Geschichte mit unerbittlicher Konsequenz ins Laufen kommt. Gleich die erste: “Addi Allmende, Absolvent angesehener / Außenhandelsakademien, arbeitet als Anlageberater …”

Andere brauchen dazu einen ganzen Roman, um so eine Karriere zu erzählen. Es geht, wie man sieht, auch ganz knapp – und trotzdem farbenfroh und lebendig. Und sonst eher langweilig daher kommende Worte entfalten ihre komplexe Dichte. Eigentlich ein Büchlein, wie es in Kinderhände gehört: Lernen, wie man Worte zum Leuchten bringt, zum Interkommunizieren. Auch so ein schönes Wort. Kommt in deutschen Grammatik- und Literaturlehrbüchern auch nicht vor. Weswegen die meisten Schüler so sprachunbegabt das Heilige Haus verlassen, wie sie hineingetrabt sind. Das Eigentliche haben sie nicht gelernt. Jedenfalls nicht über Sprache.

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Manche der kleinen, zum Gedicht oder Dialog geronnenen Storys sind wie freche Kurzgeschichten. Es kommen balzende Bibliothekarinnen darin vor, colttragende Chauvinisten, dreiste Deutschmark-Drucker und enttäuschte englische Elfmeterschützen. Der Text “Fußnoten” entpuppt sich als ein furioses Spiel mit der Fußnote als Fiktion und Forschungsfeld. Aber dass es nicht nur kleine böse Geschichten sind, die man auf diese Weise alliterieren lassen kann, das zeigt spätestens der Text “Kaltekriegskinder”, in dem der Autor mit dem herrlich knackenden Buchstaben K zeigt, dass auch ein Philosoph und ein politisch denkender Mensch in ihm steckt. Spätestens hier sagt sich der Leser auch: Solche Texte muss man doch auf der Bühne lesen! Da haut es doch die Zuhörer von den Sitzen!

Man kann sie natürlich auch daheim vor sich hin lesen und dabei alle Verspannungen des Tages lösen. Motto: Raus mit der Sprache. Zeit- und Gesellschaftskritik auf zutiefst humorvolle Art bringt der Buchstabe N genauso wie der Buchstabe T, bei dem Nenik dann endgültig zeigt, wie gut sich die Alliteration dazu eignet, das Porträt eines allseits gut bekannten Theodors bis zur bissigen Pointe zu treiben. Vier Seiten, eine komplette Lebensgeschichte mit dem “unaufhaltsamen Aufstieg” des Theo Theoberg – und seinem traumatischen Abgang nach einem tölpelhaften Traktat.

Experimentell geht’s natürlich auch bei X und Y, den beiden Exoten im deutschen Alphabet, weiter. Nenik hat keinen Buchstaben ausgelassen. Ein Buch für alle, die sich vom platten Sprachmulch des Tages erholen möchten. Mit oder ohne Publikum. Nichts für Trauerklöße, es sei denn, sie brauchen mal wieder eine Familienpackung Aufmunterung. Hier ist sie.

Francis Nenik “Ach, bald crashen …”, Alliterationen, mit Illustrationen von Halina Kirschner, ed[ition]. cetera, Leipzig 2013, 9,90 Euro

www.ed-cetera.de

www.the-quandary-novelists.com

www.halinakirschner.de

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