Berlin gibt es nur in Teilen. Für einen Ein-Tages-Stadtführer ist die Stadt zu groß. Immerhin die größte, die wir haben. Selbst Journalisten verzweifeln an dieser Stadt. Leipziger eher weniger. Sie kennen die Träume, Ecken und Ratlosigkeiten dieser Stadt aus eigener Erfahrung - eine Nummer kleiner. Da kann man seufzen und einfach weitermachen. Aber Berlin? - Berlin gibt's nur als Torte. Jedes Stück anders. Heute das mit dem Kreuz drauf: Kreuzberg.

Ganz hinten unter Nummer 34, erfährt der Leser tatsächlich, woher das Kreuz kommt. Die Berggröße kann man ja gleich verraten: 66 Meter. Vielleicht nehmen deshalb die Bayern nicht für voll, was da oben im eher flachen Norden passiert. Was ist das schon für eine Landschaft, in der man keine Bergsteigerausrüstung braucht, um auf den Berg zu kommen, sondern nur ein Fahrrad? Und das auch nur, wenn man die volle Tour machen will. Selbst Marika Bent, die auch diesen Berliner Stadtteilführer geschrieben hat, warnt davor, dass es für Kreuzberg vielleicht doch länger dauern könnte als nur einen Tag. Es gibt ein paar echte Klopper unterwegs, die man besuchen kann – und für die man Zeit braucht – die Berlinische Galerie zum Beispiel (Nr. 15), das Jüdische Museum (Nr. 16), die Topografie des Terrors (Nr. 19), das Deutsche Technikmuseum (Nr. 25) oder die ganzen Friedhöfe rund ums Hallesche Tor. Schon die allein lohnen eine Kreuzberg-Reise.

Denn Deutschland hat ja bekanntlich – anders als Frankreich – kein Pantheon. Nicht mal die Preußen haben eins gebaut. Was bei all den Wilhelms und Friedrichs ja verständlich ist: Sie schauten auf all die bürgerlichen Möchtegerne auch dann noch mit Schlafzimmerblick herunter, als die sie in der Welt und im richtigen Leben längst überragten. Und diese Möchtegerne liegen auch in Berlin ganz normal auf dem Friedhof. Und Kreuzberg hat gleich eine Reihe bedeutender Friedhöfe, weil es zur Zeit Friedrich Wilhelm II., der für seine Residenzstadt Berlin ein Beisetzungsverbot aussprach, noch glücklich außerhalb der alten Zollmauern lag. Und so liegen sie alle hier: E.T.A. Hoffmann, Adelbert von Chamisso, Felix Mendelssohn Bartholdy, Rahel Varnhagen, Adolf Glaßbrenner und Knobelsdorff, Adolph Menzel, Ludwig Tieck, Friedrich Schleiermacher, Theodor Mommsen und Gustav Stresemann.Auch im 19. Jahrhundert war vielen deutschen Geistesgrößen selbst das so emsige Leipzig zu klein, von anderen Städten ganz zu schweigen. Auch da ging man nach Berlin, wo das Tempo noch ein bisschen höher war. Auch Kreuzberg wirkt nur auf den ersten Blick recht ruhig. Ein wenig ist es ja aus dem Blickpunkt gerückt seit dem großen Mauerfall 1989, hat einiges an Aufmerksamkeit an den Prenzlauer Berg abgeben müssen. Die Berliner Mitte hat sich neu justiert. Und wer auf die Karte schaut, sieht – Kreuzberg liegt genau südlich davon. Nur in den Mauerzeiten, als Westberlin eine Enklave war, lag es ein bisschen in der Nische, so dass sich hier die bunte und vielsprachige Kultur entwickeln konnte, die heute das Markenzeichen des Stadtteils ist.

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Der Türkische Markt scheint eine Marke zu sein, der “Burgermeister” unter der Hochbahntasse eine genauso berühmte Adresse wie “Konopke’s” im Prenzlauer Berg. Der Leser und Stadtreisende darf auch kleine Aha-Erlebnisse feiern. Denn hier endete jenerzeit die berühmte “Linie 1”, die als Musical noch immer die Bühnen der Welt begeistert. An der Grenze zu Mitte stand mal die Mauer. Heute steht da das Baumhaus der Familie Kalin, auch so eine Kreuzberger Legende: Osman Kalin baute sein Bretterhaus auf einem Zipfel DDR-Gebiet, das von der geradlinig verlaufenden Mauer abgeschnitten war. Nach dem Mauerfall durfte er das Haus stehen lassen.

Die 40-jährige Teilung der Stadt ist in Kreuzberg noch präsent, auch wenn auf der Friedrichstraße kein Checkpoint mehr steht. Ein Schild und ein Museum erinnern an den berühmten Checkpoint Charlie. Hier kann man gleich abbiegen in die Rudi-Dutschke-Straße, deren Umbenennung auf das Konto der “taz” geht, die damit keinen anderen so richtig ärgern wollte, als den berühmten Springer-Verlag, dessen Hochhaus an der Ecke Rudi-Dutschke-Straße / Axel-Springer-Straße steht. An einer berühmten Stelle: Hier war auch vor dem 2. Weltkrieg das große Medienviertel Berlins mit den großen Verlagen Scherl, Ullstein und Mosse. Für die Zeitungen, die hier gedruckt wurden, schrieben einst Fontane, Tucholsky, Kisch, Benn, Theodor Wolff, Billy Wilder und Robert Walser.Als im Februar 1945 die angloamerikanischen Bomber das Viertel in Schutt legten, war der alte Ruhm natürlich längst dahin, die besten Autoren im Exil. Auch Zeitungsbosse vergessen oft, wie wichtig ein liberaler, kluger Geist für ihre Zeitungen und für das Wohlergehen des Landes ist. Aber die “Topografie des Terrors” ist ja ganz nah. Man kann sehen, wie sich hier die wichtigsten Institutionen des NS-Terrors an der Prinz-Albrecht-Straße aufreihten. Was die Freikorps 1919 begonnen hatten, führten die Nazis hier 1933 noch viel größer fort. 1919 ist auch präsent im Viertel, denn in Kreuzberg findet man auch den Landwehrkanal, in den die Freikorps-Mörder im Januar 1919 die Leiche der ermordeten Rosa Luxemburg warfen.

Andererseits erinnert das Paul-Lincke-Ufer am Landwehrkanal auch an den Mann, der das Lied von der “Berliner Luft” komponierte. Lincke wuchs in Kreuzberg auf. In Berlin trifft immer wieder das Kleine, Liebenswerte auf die große Politik. Zu Letzterem gehört natürlich das Willy-Brandt-Haus der SPD. Zu Ersterem gehört ein kleiner Bursche mit Pluderhosen und Turban: der Sarotti-Mohr, von Hugo Hoffmann erfunden, um seine Schokoladen überall erkennbar zu machen. Die Sarotti-Höfe am Mehring-Damm, wo er 1881 begann, erinnern daran.

Ein Stück weiter trifft man auf die Bauten der berühmten Schultheiss-Brauerei. Natürlich am Berg gelegen, weil man im 19. Jahrhundert noch große kühle Bierkeller im Berg brauchte. Und wenn man hier ist, kann man gleich ganz hinaufsteigen auf den Kreuzberg. Oben steht das 1821 fertiggestellte Nationaldenkmal, das an die Befreiungkriege erinnert. Die Berliner hatten – wie man sieht – schon viel, viel früher eins als die Leipziger. Es ist nur nicht so berühmt. Ein “Eisernes Kreuz”, wie es sich Preußen nach den “Befreiungskriegen” von Friedrich Schinkel entwerfen ließ, ist oben auf der Spitze des Denkmals zu sehen. So kamen Berg und Stadtbezirk zu ihren Namen.

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Kreuzberg an einem Tag
Marika Bent, Lehmstedt Verlag 2013, 4,95 Euro

Nun weiß man’s. Und weil man ja mit Rad hinaufgefahren ist, kann man auch wieder hinunterradeln bis zur Bergmannstraße (Nr. 31), die heute eine Straße voller Cafés und Restaurants und kleiner Geschäfte ist. Hier kann man die Tour durch Kreuzberg ausklingen lassen. Haben wir was ausgelassen? – Klar: den Oranienplatz, wo sich ein paar ewige Barrikadenkämpfer jeden 1. Mai zur Straßenschlacht treffen.

Aber was nicht im handlichen Stadtführer steht: Hier hat auch Yadegar Asisi seine Werkstatt, der deutsche Großstädte seit zehn Jahren mit seinen großen Panorama-Bildern beglückt. Und wenn es eins gibt, was er nicht mag, dann sind das Schlachten aller Art.

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