Buchtitel sind manchmal geradezu irreführend. Auch wenn ein Fußball-Titel wie "Abseits im Strafraum" nicht ganz abwegig war für dieses Buch mit drei Lebensschicksalen von Männern, die bis 1955 im eisigen Workuta zu unrecht inhaftiert waren. Darunter auch Karl Keller, "Der Ausnahmefußballer". Auch die Todesnähe ist für dieses Workuta-Buch ein bisschen zu dick aufgetragen.

Denn anders als andere Bücher zum Thema liegt der Fokus dieser drei Lebensgeschichten auf dem Menschlichen, dem Überleben unter widrigen Umständen, aber auch den Strategien des Überdauerns, der Freundschaft und der Heimkehr in das ferne Deutschland. Hier rechnen drei Überlebende des Straflagers nicht einfach ab. Sie haben alle nach ihrer Heimkehr nach Deutschland erfolgreiche Berufskarrieren gestartet. Und mit der Glasnost-Zeit unter Gorbatschow und dem frühen Jelzin war auch ein Besuch von Workuta wieder möglich, wo noch heute Kohle abgebaut wird. Nur die Straflager sind verschwunden.

Die frühen 1950er Jahre erweisen sich aus der Rückschau tatsächlich als Zeit eines Tauwetters. Auch wenn der stalinsche Terror nach der Besetzung Ostdeutschlands auch erst einmal auch die jungen, mutigen Menschen in der Besatzungszone traf. Wilhelm K. H. Schmidt spricht natürlich von den zwei diktatorischen Regimen, die die jungen Menschen im Osten damals in nahtlosem Wechsel erlebten. Und aus der Perspektive all jener, die damals in die Mühlen der sowjetischen Militärgerichtsbarkeit (mit der das ostdeutsche MfS aufs engste kollaborierte) ist diese Verknappung natürlich richtig. Eine Ideologie wurde durch die andere abgelöst – und beide konnten sich nur mit rücksichtsloser Gewalt gegen Andersdenkende behaupten. Die kleine Hoffnung, dass die Wörter demokratisch und Republik in DDR auch ernst gemeint waren, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil. Wer die Verheißungen ernst nahm wie der “streitbare FDJ-Funktionär” Roland Bude, der landete ohne jede Vorwarnung im eisigen Workuta.
Alle drei Porträtierten weisen natürlich auch darauf hin, wie wichtig diese billigen Sklavenarbeiter, die überall im Stalin-Reich eingesammelt wurden, dafür waren, die sowjetische Wirtschaft mit Energie zu versorgen und die Kohlevorkommen nördlich des Ural überhaupt abbauen zu können. Mit dem Besuch der Staatsanwaltschaft in Moskau und den Gräbern in Workuta im Jahr 1994 erlebten die Männer, die die eisige Bergbauregion nach fast 40 Jahren erstmals wieder besuchten, auch ein Land im Umbruch. Kurzzeitig waren auch die wichtigsten Moskauer Archive geöffnet, Tausende zu Unrecht Bestrafter wurden rehabilitiert und selbst der russische Geheimdienst zeigte sich bereit, aus den Fehlern und Verbrechen der Vergangenheit zu lernen. Was die Männer freilich vor Ort sahen, war auch ein Land im Zwiespalt. Der Weg, den Russland künftig einschlagen würde, war völlig offen.

Sie begegnen auch noch einigen der anderen Überlebenden von Workuta. Denn die Deutschen waren dort eine Minderheit. Ukrainer, Balten, Kaukasusvölker waren wesentlich stärker Vertreten. Unter tagen in den Kohlestollen waren sie alle gleich, mussten in Brigaden zusammen arbeiten und Normen bringen, die dann in Moskau als Erfolge gefeiert wurden. Von der Planerfüllung aber hingen auch die Vergünstigungen und Essensrationen ab. Und das Überleben hing auch eng vom Verhältnis zu den anderen Mitgefangenen ab.

Karl Keller, den schon seine Familiengeschichte aus dem einst von Deutschen besiedelten Bessarabien (heute Moldawien) nach Mecklenburg verschlug, wo er dann in die Fänge des Militärtribunals geriet, ist der Fußballer unter den dreien. Zu den leichten Lockerungen nach Stalins Tod 1953 gehörte auch die Erlaubnis, in den Lagern Fußballmannschaften zu gründen. Für Keller war die Aufnahme in die Mannschaft auch der Weg heraus aus der Schachtarbeit in die etwas leichtere Arbeit in der mechanischen Werkstatt. Er erzählt, wie die erste Mannschaft im Lager zustande kam, wie selbst die ersten Trikots von den Häftlingen selbst gefertigt wurden. Nach seiner Entlassung 1955 spielte er auch kurz in der Bundesliga.

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Karl Keller, den schon seine Familiengeschichte aus dem einst von Deutschen besiedelten Bessarabien (heute Moldawien) nach Mecklenburg verschlug, wo er dann in die Fänge des Militärtribunals geriet, ist der Fußballer unter den dreien. Zu den leichten Lockerungen nach Stalins Tod 1953 gehörte auch die Erlaubnis, in den Lagern Fußballmannschaften zu gründen. Für Keller war die Aufnahme in die Mannschaft auch der Weg heraus aus der Schachtarbeit in die etwas leichtere Arbeit in der mechanischen Werkstatt. Er erzählt, wie die erste Mannschaft im Lager zustande kam, wie selbst die ersten Trikots von den Häftlingen selbst gefertigt wurden. Nach seiner Entlassung 1955 spielte er auch kurz in der Bundesliga.

Aber nicht nur Keller erzählt davon, welches Echo die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 auch in den eisigen Straflagern des GULag auslöste. Seit Stalins Tod und Berijas Verhaftung gärte ja die Hoffnung in den Lagern, dass man endlich frei käme. Doch erst die Adenauer-Reise nach Moskau verschaffte auch den zu Unrecht in der DDR Verhafteten den Weg in die Freiheit. Den viele natürlich lieber in den Westen wählten als in die DDR.

Mit Heini Fritsche, der die Aufrüstung der DDR innerhalb der Volkspolizeibereitschaft an den RIAS verriet, ist auch ein gebürtiger Leipziger in diesem Buch vertreten. Er machte später als Kriminalpolizist in Bochum Köln und Bonn Karriere.

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Abseits im Strafraum
Wilhelm K. H. Schmidt, Leipziger Uni-Vlg 2013, 23,00 Euro

Alle drei Porträtierten erzählen recht detailliert vom Leben in den Baracken, den Macht- und Unterstützungsstrukturen im Lager, den Hoffnungen und Zweifeln in jener Zeit, in der ein Ende der “Stalinschen Norm” von 25 Jahren Zwangsarbeitslager noch nicht absehbar und vor allen deren letzten beiden Jahren, in dem die Veränderungen spürbar waren, die Kontakte mit den Verwandten wieder möglich waren, aber noch nicht so recht klar war, ob am Ende tatsächlich eine Rückkehr in die Heimat steht.

Dass das traumatische Geschehen trotzdem zu erzählenswerten Anekdoten gerinnen kann, das beweist Karl Keller in seinem Interview. Vielleicht ist es wirklich der Humor, der Menschen hilft, solche Eingriffe in ihr Leben halbwegs heil zu überstehen. Auch wenn – Roland Bude spricht das Thema an – natürlich immer die Frage steht: Hätte ich lieber meine Klappe gehalten und getan, was die neuen Machthaber verlangten? Hätte ich damit meiner Familie nicht das Leid erspart? – Viele tun dann in der Regel, “was von ihnen verlangt” wird. Es sind auch außergewöhnlich mutige Menschen, die hier zu Wort kommen, die sich nicht schon wieder einem neuen Regime beugen wollten, das genauso rücksichtslos war wie das gerade überwundene.

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