Seit dem 7. April wird in Sachsen gefeiert. Vor 175 Jahren - am 7. und 8. April 1839 - wurde die erste Ferneisenbahn in Deutschland in Betrieb genommen. Die meisten Geschichten dazu sind bekannt. Fast sind sie schon Sagenschatz. Aber man kann sie auch ein klein wenig anders erzählen. Dann muten sie erstaunlich gegenwärtig an.

Ralf Haase, Jahrgang 1938 und lange Zeit als Hochschuldozent in Sachen Verkehrswissenschaften in Dresden tätig, tut das in diesem Fall. Immerhin geht es um die Geburtsstunde des modernen Sachsen, die es in dieser Form nicht gegeben hätte, wenn nicht der einst von Metternich aus dem Land vertriebene Friedrich List mit seinen Erfahrungen aus den USA zurückgekommen wäre, um in Deutschland zu versuchen, die Vision eines Landes ohne Zoll- und Handelsschranken und mit modernen Transportmitteln zu verwirklichen. Es ging ihm wie jedem Visionär auch heute noch: Er brauchte Geldgeber. Und bevor er nach Sachsen kam, versuchte er es bei dem Hamburger Pfeffersäcken. Doch die wollten nicht. Die schauten nur stur übers Meer und fanden keinen Sinn darin, in ihrem Rücken – zu Lande – bessere, größere Infrastrukturen für die Binnentransporte zu schaffen.

Also ließ sich List als amerikanischer Konsul nach Leipzig versetzen und schaffte hier, was im Nachhinein doch verblüfft: wichtige Leipziger Finanziers für seine Idee einer Ferneisenbahn zu begeistern. Erstmal nur einer – von Leipzig nach Dresden. Das war für die Herren Harkort & Co., die dann die Leipzig-Dresdner Eisenbahn Compagnie (LDE) gründeten, noch vorstellbar und logisch. Die Landstraßen waren eine Katastrophe, Kutschenfahrten ein Abenteuer und die verfügbaren Transportkapazitäten eher lächerlich.

Übrigens fast zeitgleich machte man sich auch in Dresden Gedanken. Das wird aus Leipziger Perspektive gern vergessen. Der sächsische König, so konservativ er im politischen Denken war, hatte dennoch ein großes Interesse daran, dass sein Land wirtschaftlich florierte und Anschluss an die moderne Entwicklung bekam. Das ist ganz explizit mit einem Mann namens Johann Andreas Schubert verbunden, der seit 1828 Professor an der Königlich-Technischen Bildungsanstalt war, dem Vorläufer der heutigen TU Dresden. 1834, als List in Leipzig die reichen Bankiers von seinem Projekt einer Eisenbahn überzeugte, reiste Schubert nach England, in die “Werkstatt der Welt” und studierte die dortigen Neuerungen – fuhr auf den ersten Eisenbahnstrecken und besuchte die Fabriken, in denen die modernen Dampfmaschinen hergestellt wurde.
Misstrauisch beäugt von den englischen Werkmeistern und Ingenieuren, die zu Recht vermuteten, dass hier einer Industriespionage betrieb. Irgendwie war es ja so. Nach seiner Rückkehr gründete Schubert in Uebigau die erste sächsische Lokomotiven-Fabrik. Und 1839, als die Festzüge die 116 Kilometer lange Strecke zwischen Leipzig und Dresden eröffneten, durfte er mit seiner selbstkonstruierten Lokomotive, der “Saxonia”, mitfahren. Oder besser: hinterherfahren. Denn irgendwie scheinen die englischen Lokführer, die die LDE zum Betrieb ihrer aus England importierten Lokomotiven angeheuert hatte, den Einsatz der “Saxonia” kräftig sabotiert zu haben.

Auch das augenscheinlich ein alter Topos der Wirtschaftskriminalität. Heute würden die englischen Lok-Bauer den Sachsen wohl vor Gericht zerren und wegen Verletzung ihrer Patentrechte in die Insolvenz treiben. Denn die “Saxonia” war zwar kein Nachbau der englischen Loks, aber eine Weiterentwicklung, die das Gerät deutlich leistungsfähiger machte. Auch beim Versuch, modernere Dampfschiffe mit Hochdruckkesseln auf der Elbe in Einsatz zu bringen, scheiterte Schubert. Die Lizenz bekam ein Bewerber, der lieber mit den alten, schweren Niederdruckkesseln verkehrte. Auch das irgendwie vertraut: Wenn Politik entscheiden soll, entscheidet sie sich lieber für das vertraute Modell von Gestern als für das Unbekannte von Morgen.

Der Fortschritt geht oft krumme Wege. Und in Leipzig war es ja kein bisschen anders. List verärgerte das Konsortium der LDE gewaltig, als er noch während der Planungen für die Leipzig-Dresdner-Bahn Pläne für ein ganzes deutschlandweites Streckennetz vorlegte und sogar nach Berlin fuhr (mit der Postkutsche), um den preußischen König für das Projekt zu begeistern. Was ihm nicht gelang. Der preußische König war noch nicht soweit, obwohl gerade die Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 deutlich machte, dass moderne Transportmittel, die die wichtigsten Städte Deutschlands miteinander verbanden, auf der Tagesordnung standen. Für List die nächste logische Strecke: Leipzig-Potsdam-Berlin.

Es gab ein Land, wo man begriff, was dieser List für ein Visionär war: Frankreich. Doch das Angebot, dort die Koordination des Eisenbahnbaus in die Hand zu nehmen, schlug er aus. Fuhr lieber nach Thüringen, um den dortigen Zwergfürstentümern eine gemeinsame Thüringenbahn ans Herz zu legen.

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Als 1839 die Festzüge die Strecke Leipzig-Dresden in Betrieb nahmen, war List nicht mehr dabei. Aber die Herren aus dem Leipziger Konsortium merkten schnell, dass ihre investierten Millionen kein rausgeschmissenes Geld waren, auch wenn der erste Wagenpark noch sehr abenteuerlich aussah. Sie hatten mehrmals Geld nachschießen müssen. Und sie kalkulierten ganz auf Leipziger Art – knapp, konservativ und sehr, sehr vorsichtig. Mit 32.000 beförderten Personen rechneten sie im ersten Jahr. Am Ende rieben sie sich die Augen: 441.531 waren es. Die Strecke hatte die Fahrzeit zwischen den beiden Städten drastisch verkürzt.

Und noch etwas merkten die Herren schnell: Sie hatten zu wenige Güterwagen, denn auf einmal war der Transport großer Mengen von Gütern, Rohstoffen und Waren lukrativ und preiswert.

Und niemand erzählte am Jahresende mehr, es brauche keine weiteren Bahnstrecken. Im Gegenteil. Jetzt entstanden die neuen Bahngesellschaften fast im Jahresrhythmus. Auch die Preußen wachten auf und bauten bald die Strecke Leipzig-Magdeburg. Die Bayern bauten eine Bahn, die auf einmal geradezu nach einem Anschluss nach Leipzig schrie – also wurde gleich noch die Sächsisch-Bayerische Eisenbahngesellschaft gegründet.

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175 Jahre erste deutsche Ferneisenbahn
Ralf Haase, Eudora-Verlag 2014, 17,90 Euro

All das ohne List, der sich das ausgedacht hatte und der am Ende mit Undank verabschiedet worden war. Manchmal ist es einfach die Art, wie eine Geschichte erzählt wird, die die wohl vertrauten Bezüge in die Gegenwart herstellt. So, wie es Haase in diesem Buch macht. Rund um die Geschichte des LDE-Projekts erzählt er auch die notwendigen Geschichten drumherum, die man aber wissen muss, um die Zeit zu verstehen – von den bis 1834 normalen, längst überalterten Transporttechniken, mit denen man keinen Wettlauf mehr gewinnen konnte, über die Geschichte des Deutschen Zollvereins bis hin zum Beginn der frühen sächsischen Industrie, für die auch Schubert steht. Das Buch ist reich bebildert und mit Karten bestückt. Und im dicken Anhang gibt es einige der im Text erwähnten Schriften im Reprint. Darunter auch eine Beschreibung der Einweihungsfahrt und ein paar dieser schrecklichen Reimereien, die damals auch noch in den Zeitungen abgedruckt wurden, wenn irgend ein großes Ereignis stattfand – wie eben die Fahrt der ersten deutschen Ferneisenbahn. Da waren nicht nur die anonymen Reimschmiede aus Dresden und Leipzig sowas von aufgeregt …

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