Das Cover-Bild ist natürlich zutiefst verstörend. Ganz so, als wollten Ana Dimke und Hans-Werner Schneider mit diesem Bild zeigen, dass auch Adam Friedrich Oeser eigentlich ein junger Wilder war. Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus einer Tintenzeichnung Oesers mit dem Titel "Groteske". Im Katalog selbst kommt das Bild nicht vor, auch wenn es ein kleines Kapitel zu Oeser gibt.

Darin schildert Ralf F. Hartmann, der Kurator der Ausstellung im Museum der bildenden Künste die Bedeutung Oesers als erster Rektor der Leipziger Zeichnungs-, Mahlerey- und Architectur-Academie, die 1764 parallel zur Dresdner Akademie und dem Ableger in Meißen gegründet wurde. Er geht auf Oesers Verbindung zu Winckelmann ein und seine enorme Bedeutung für den jungen Goethe, der damals zum Jura-Studium in Leipzig weilte und bei Oeser Zeichenunterricht nahm. Ein großer Zeichner ist aus Goethe zwar nicht geworden, aber Oeser hat ihn auf ein wesentliches Verbindungsstück aufmerksam gemacht, das in der damaligen deutschen Literatur praktisch keine Rolle spielte: die enge Verbindung von Herz, Reiz und Gefühl. Die Literatur war hochakademisch und sehr ätherisch. Damit erreichte man aber nicht die Herzen der Leser. Diesen Sprung schaffte in der deutschen Literatur erst der “Sturm und Drang”. Goethe hatte also was gelernt in Leipzig – und war Oeser dafür zutiefst dankbar.

Ansonsten tun sich Kunstwissenschaftler schwer mit Oeser, warfen ihm lange vor, dass er noch immer den Stilformen des Barock anhing. Doch Hartmann entdeckt in den Bildern des Mannes, der am Beginn der heutigen HGB stand, durchaus Anzeichen dafür, die Grenzen der Malerei seiner Zeit überschreiten zu wollen.
Oeser ist quasi der einzige “Alte”, der in der Ausstellung “Herz, Reiz & Gefühl” gewürdigt wird. Der Hauptteil der Ausstellung ist 14 jungen Künstlerpositionen aus der HGB gewidmet, die sich auf dem Kunstmarkt inzwischen etabliert haben. Drei davon sind echte Künstlerkollektive – so wie VIP, die sich für ihre Inszenierungen der Videotechnik bedienen, Famed, die vor allem mit Lichtinstallationen die Kunst in den (öffentlichen) Rau tragen, oder Oliver Klimpel, William Haggard und die Klasse System-Design der HGB, die den Hof der Hochschule mit “Modern Follies” bestückt haben.

Zu jeder künstlerischen Position gibt es einen ausführlichen Essay, der auch die sozialen und philosophischen Spielräume der gezeigten Kunstwerke beleuchtet. Denn gedacht haben sich die jungen Künstler alle was. Und was besonders verblüfft: Ihr Kunst-Schaffen steckt voller kritischer Auseinandersetzungen mit der erlebten Realität, wie man sie in den üblichen Tagesmedien schon seit Jahren vermisst. Eine immer mehr vom Informationsrausch besessene Gesellschaft hat scheinbar verlernt, sich über die Folgen bis tief ins persönliche Leben überhaupt noch Gedanken zu machen. Übers Kunstschaffen und den heutigen Kunstmarkt etwa, was Anna Baranowsky mit ihrem Beitrag auf den Punkt bringt: Wie macht man aus Scheiße etwas Wertvolles? In diesem Fall einen Diamanten, der in einer dunklen Holzsäule zu bestaunen ist. Nicht der einzige Fall, in dem Kunst und Naturwissenschaften auf einmal eine verblüffende Symbiose eingehen. Bei Julius Popp erwartet man es ja geradezu. Auch seine Installation “micro.perpendiculars” ist wieder ein Spiel mit Anleihen aus der Informatik, der Mathematik, der Soziologie.

Beeindruckend sind in Katalog und Ausstellung die Fotografen, die das Mittel der Fotografie immer weiter treiben. Viktoria Bintschok holt in ihren fotografischen Bearbeitungen die Nebenfiguren auf Fotos von Politikern und anderen Berühmtheiten in die Aufmerksamkeit: die Security-Männer, die mittlerweile irgendwie zu den Auftritten der Mächtigen und Berühmten immer dazu gehören und hinter ihrem Rücken aufmerksam ins anwesende Publikum schauen. “Suspicious Minds” nennt Bintschok ihre Bilderserie, die in der Ausstellung direkt konfrontiert ist mit Mathias Hamanns Fotos aus der Serie “Close up”, mit denen er das Thema queerer Lebensentwürfe aufgreift. Die dicht herangezoomten Gesichtsausschnitte wirken scheinbar vertraut, aber auch befremdend. Und erst beim genaueren Betrachten wird deutlicher, wie sehr sich die Rollenwahl der Dargestellten auch in ihren Gesichtern zeigt.

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Mit einem ganz ähnlichen Thema hat sich auch Tobias Zielony in seiner Serie “Big Sexyland” beschäftigt. Doch er zeigt auch die Brüche im Leben der jungen männlichen Prostituierten, die Tristesse ihres Lebens am Rand.

Mit den Schattenseiten unserer Gesellschaft beschäftigt sich auch Clemes Wedemeyer in seiner Filminszenierung “Muster” zur wechselhaften Rolle des Klosters Breitenau südlich von Kassel im 20. Jahrhundert. Dabei spiegelt sich das Erlebte auch in den betroffenen Gesichtern von Schülern, einige davon scheinbar richtig entsetzt darüber, was Menschen Menschen antun können, wenn man ihnen nur die Macht dazu gibt.

Und während die Tagesmedien das Entsetzen nach der Katastrophe von Fukushima versuchten, möglichst eindrucksvoll zu inszenieren, hat Hans-Christian Schink ein Jahr nach der Katastrophe ganz andere Bilder der japanischen Ostküste aufgenommen. Denn Fotografieren heißt auch, die Art seines Sehens verändern. Schink wählte dafür die fast vertraut wirkende Perspektive der klassischen Landschaftsmalerei – nicht nur die eines Caspar David Friedrich. Einige seiner Aufnahmen der zerstörten Landschaften in der Präfektur Miyagi wirken wie eine liebevolle Hommage an die japanische Kunst des Holzschnitts. Sie machen aber auch deutlich, dass menschliche Strukturen immer auch vergänglich sind, zufällige Bestandteile einer großen, manchmal rücksichtslosen Landschaft, die von den Gewalten der Natur zu bizarren Restposten am Rand der Wildnis zusammengeschoben werden können.

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Herz, Reiz und Gefühl
Mitteldeutscher Verlag 2014, 14,95 Euro

Katalog und Ausstellung erzählen also eine Menge über die geistigen Anregungen, die die Studierenden insbesondere in den Studienbereichen Installation, Fotografie, Film und Konzeptkunst bekommen, wie sie selbst neue Ansätze finden, das, was sie bewegt, in neuen Formen der Darstellung umzusetzen, zu diskutieren, aufzureißen. Ihre Arbeiten wirken natürlich viel weniger fertig und geschlossen als die Arbeiten der klassischen Kunstepochen. Aber dadurch spiegeln sie unsere Zeit umso deutlicher, ihre Ratlosigkeit und das Fragmentarische der meisten medialen Angebote. Da wirkt selbst die Inszenierung der englischen Kolonialkultur des Engländers Stanley verstörend, wenn Peggy Buth dessen “My Kalulu” neu inszeniert und hier der Exotik der verkappten Formen von Gewalt, Macht und Missbrauch sichtbar macht. Die als solche nicht gleich auffallen, weil sich die einstigen europäischen Kolonialmächte noch nicht wirklich von diesem alten Denken verabschiedet haben. Es taucht immer wieder auf in immer neuen Formen, und es bedient sich immer wieder der selben alten Inszenierungen von Wildnis, Fiktion und grotesker Überhöhung.

Womit man wieder bei Oeser wäre, der nicht mal eine Reise nach Italien gemacht hat. Aber sein Bild “Groteske” erzählt auch davon, dass die Alpträume der Welt gar nicht erst in Afrika gesucht werden müssen. Sie sind auch im ach so zivilisierten Europa zu finden. Genauso wie die Strandgüter der modernen Träume. Ricarda Roggan hat welche auf Zypern gefunden: alte Simulatorkabinen, in denen die männlichen Inselbewohner ihr Träume vom Ferrari-Fahren und wilden Touren bei einer Rallye ausleben konnten. Heute augenscheinlich verwaist, Relikte eine Zeit, die schon wieder Teil einer modernen Archäologie ist. Die großen, aufs Wesentliche reduzierten Fotos erzählen so ganz beiläufig von der gnadenlosen Eile der Gegenwart. Ihre Relikte bleiben zurück und erzählen in beklemmender Stille, wie oberflächlich das letzte oder vorletzte Kapitel war. Und wie sehr von der Illusion einer wilden Jagd besessen, die augenscheinlich nicht einmal ein Ziel hat.

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