Leipziger Ärzte schreiben nicht nur hochwissenschaftliche Fachbeiträge oder Forschungsberichte. Einer hat sich jetzt auch mal hingesetzt, um über ein ganz irdisches Thema zu schreiben. Im Grunde sein täglich Brot, denn Prof. Dr. med. Hubertus Himmerich ist Professor für Neurobiologie affektiver Störungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Leipzig. Und da befasst er sich mit einem Thema, das viele Zeitgenossen quält: Depressionen. Aber nicht alles, was uns bedrückt, ist eine Depression.

Auch wenn die Ursachen oft dieselben sind: Ein paar Hormone werden nicht ausreichend ausgeschüttet, ein wichtiger Botenstoff wird nicht in ausreichender Menge produziert, das Immunsystem ist bis an seine Grenzen ausgelastet, ein wichtiges Vitamin fehlt. Zumindest eines ist klar und gehört zu den wichtigen Erkenntnissen der modernen Medizin: Der Mensch ist von den chemischen Vorgängen in seinem Körper viel abhängiger, als es sich selbst Sigmund Freud einst zu träumen wagte. Und das trifft auch auf die Winterdepression zu. Auf den Winterblues sowieso.

Himmerich trennt das beides sauber voneinander, auch wenn die Übergänge fließend sind und eine richtige Depression unbedingt in ärztliche Behandlung gehört.

Aber sein Buch nimmt den Leser mit in die Erforschung der Ursachen. Auch wenn man es als Einwohner Mitteleuropas ja eigentlich weiß, dass die kürzer werdenden Tage und das weniger werdende Licht in Herbst und Winter “auf die Stimmung schlagen”. Die schiefe Erdachse ist schuld. Sie sorgt für die ausgeprägten Jahreszeiten auf der Nord- und der Südhalbkugel und die unterschiedliche Länge der Tage in Sommer und Winter. Und unsere Altvorderen gingen damit wohl ein ganzes Stück anders um als wir, denn dass man sich in der dunklen Jahreszeit lieber zurückzieht, eher nicht zu Höchstleistungen neigt, gern Süßes und Fettes vertilgt und dabei auch gern maßlos isst, das hat mit der Anpassung der Lebewesen an eine Zeit zu tun, die nicht nur weniger Licht bereithält und frostige, ungemütliche Tage, sondern auch ein deutlich verknapptes Nahrungsangebot. Da schrauben nicht nur Eichhörnchen und Murmeltiere ihre Aktivität zurück, verkriechen sich Dachse und Bären in ihre Höhlen, auch der Mensch muss in früheren Zeiten, als noch kein elektrischer Strom und keine Rund-ums-Jahr-Bereitschaft zu dauerhafter Aktivität zwangen, seinen Aktionismus deutlich heruntergedimmt haben. Gerade im ländlichen Raum passte er sich noch bis vor wenigen Jahrzehnten dem Rhythmus der Jahreszeiten an, feierte Erntedank und bereitete sich dann auf die ruhigere Zeit vor, machte das Haus winterfest, kontrollierte die Vorräte und machte den Ofen zum Mittelpunkt des winterlichen Familienlebens.

Dass Depressionen – und insbesondere die Winterdepression – heute so ein Thema sind, hat wohl eine Menge damit zu tun, dass es dem modernen Stadtmenschen kaum noch möglich ist, im Einklang mit dem Rhythmus des Jahres zu leben. Und auch nicht mit dem Rhythmus der Tage, die nur in den Köpfen der Wirtschaftstheoretiker alle gleich lang sind.Dabei haben sich unsere Körperfunktionen in den vergangenen 200 Jahren der Industrialisierung nicht verändert. Noch immer verändert sich unser Hormonhaushalt im Takt der Jahreszeiten, ist die Produktion des Schlafhormons Melatonin an die Veränderung der täglichen Sonnenstunden angepasst, produziert unser Körper die so wichtigen Botenstoffe Serotonin, Dopamin und Noradrenalin, ohne die unser Nervensystem nicht funktioniert, in den alten Rhythmen, so, wie wir leidlich angepasst sind an das Leben in höheren Breiten. In Afrika, stellt Himmerich so nebenbei fest, gibt es keine Winterdepression.

Es liegt also nahe, die jahreszeitlich auftretenden Depressionen in Herbst und Winter tatsächlich der Tatsache zuzuschreiben, dass wir nur relativ leidlich an diesen Wechsel der Jahreszeiten angepasst sind – die meisten freilich ganz gut, einige haben zu kämpfen – und bei einer kleinen Gruppe von Menschen schafft es der Stoffwechsel nicht, sich der doppelten Beanspruchung anzupassen: dem fehlenden Sonnenlicht (das so wichtig ist zur Produktion des Vitamins D) und der gleichzeitig nicht abnehmenden Leistungsanforderung unserer Umwelt.

Sehr eindrücklich schildert Himmerich nicht nur die mehr oder weniger erkannten Wirkmechanismen – lässt freilich auch nicht weg, dass die Forschung in vielen Bereichen noch immer am Anfang steht. Er trennt aber auch das, was wirklich eine klinisch zu behandelnde Depression ist, von dem, was die Meisten ganz laienhaft dafür halten. Was passieren kann, denn die Ursachen sind dieselben. Nur wächst es sich bei vielen Menschen nicht wirklich zu einem Leiden aus, sondern erscheint vielen eher wie ein Blues – eine leichte Antriebslosigkeit, eine zunehmende Müdigkeit, auch mal Konzentrations- und Motivationsschwäche, Momente der Trauer und des Abschieds.Aber auch dagegen kann man etwas tun. Und die Ratschläge sind so einleuchtend wie eigentlich bekannt: raus an die frische Luft, Tageslicht tanken, so viel nur geht, Sport treiben, unter Leute gehen, Obst und Gemüse essen, musizieren oder auch den Jahresurlaub ruhig mal in den Winter legen, wenn man sowieso nicht so leistungsfähig ist.

Dass man mit einem Winterblues nicht allein ist, belegen auch berühmte Songs der Weltmusik – nicht zuletzt aus dem großen Land des Blues, in dem sich auch Hubertus Himmerich zu Hause fühlt. Und die großen Sänger haben ja nicht einfach so drauflosgesungen, sie haben das Gefühl von Verlust und Abschied oft auf grandiose Weise eingefangen. Auch die Momente des Verzagens, der Selbstvorwürfe: Hätte man den Sommer nicht besser nutzen können? Hätte man die Beziehungskiste nicht etwas mutiger angehen sollen?

Es ist also nicht nur ein Buch für Menschen, die wirklich mit Einbruch der dunklen Jahreszeit mit schweren Symptomen kämpfen müssen und in der Regel einen Arzt brauchen, der mit ihnen die richtige Therapie findet, das Leiden zu mildern. Auch nicht nur für Angehörige, die meistens recht ratlos sind, wenn ihre Nächsten in so ein tiefes Loch fallen. Auch für die gibt es ein paar wichtige Hinweise.

Es ist auch ein Buch für alle, denen der Blues nicht ganz fremd ist und die Tipps suchen, wie sie dem alljährlichen Tief beikommen können. Wozu natürlich – das ist das Wichtigste dabei – auch ein Wissen um die Zusammenhänge gehört. Wenn man weiß, was da eigentlich passiert, lädt man auch ein gut Teil der Selbstvorwürfe ab, die man sich macht, wenn man glaubt, nun kein vollwertig funktionierender Leistungsträger mehr zu sein. Übrigens ein Phänomen, das vor allem Frauen quält, die ja bekanntlich nicht nur den Job meistern, sondern in der Regel auch noch das komplette Familienmanagement.

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Winterblues
Hubertus Himmerich, Kreuz Verlag 2014, 14,99 Euro

Ein paar Tipps, wie man die Adventszeit (die eigentlich eine Zeit der Andacht ist) und das Weihnachtsfest anders meistert, gibt Himmerich auch. Denn wenn man aus ganz natürlichen Gründen nicht mehr so leistungsfähig ist wie im Hochsommer, dann muss man die alten Tugenden wieder beleben, die uns erst zum sozialen Wesen machen – abgeben und teilen. Nicht mehr alles allein schaffen wollen.

Im Grunde also – auch wenn Vieles, was wir so landläufig für eine Depression halten, keine ist – auch ein Buch, das zum Nachdenken anregt über unseren Umgang mit dem Rhythmus der Jahreszeiten, den Festen und unseren eigenen Ansprüchen. Meist liegt die Lösung eben nicht im “noch mehr”, sondern in einer neuen Wahrnehmung der Rhythmen, an die wir eigentlich angepasst sind und die unser Wohlergehen bestimmen. Beim einen klappt’s besser, beim anderen nicht ganz. Und ein bisschen Blues gehört einfach dazu.

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