Für FreikäuferEs gibt eine Menge Gründe, nach Frankfurt am Main zu fahren. Allein schon wegen der St. Paul’s Church oder wegen Goethe’s House. Demnächst auch wieder wegen der schönen Tower, die von der mächtigsten Banken-Stadt Europas erzählen, da ja nun die Engländer unbedingt raus wollen aus der EU. Die Londoner Banken sitzen schon auf gepackten Koffern. Und bekommen jetzt den Frankfurt-Stadtführer gleich noch auf Englisch.

Das ging fix. Denn den deutschsprachigen Stadtführer, mit dem man Mainhattan an einem Tag erkunden kann, hat der Lehmstedt Verlag erst im Mai vorgelegt. Der erzählte dann auch den Leipzigern, dass Frankfurt in Sachen Museenlandschaft ein ganz anderes Kaliber ist. Leider. Frankfurt hat profitiert davon, dass Leipzig 1945 aus dem Rennen flog und einen Knick in seiner wirtschaftlichen Entwicklung bekam, der die Stadt bis heute hemmt. Lohnt sich der neidische Blick nach Frankfurt?

Ja und nein.

Jede Stadt ist gezwungen, sich immer wieder neu zu erfinden. Die Frankfurter haben den Vorteil: Sie haben dafür mehr Geld zur Verfügung. Was sie 70 Jahre nach Kriegsende in die Lage versetzte, die alte Innenstadt einfach wieder neu aufzubauen. All das, was im 2. Weltkrieg zerbombt wurde oder danach im wilden Aufbaufieber einfach weggeräumt wurde. Aber irgendwie merkten da selbst die jüngeren Frankfurter, dass die Stadt damit ein wenig ihr Gesicht verlor, ihr Herz, den Faden, der die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet.

Die kritischen Stimmen gab es auch. Es gibt ja immer die Alles-Wegreißer, die jede Rettung von historischem Flair als faule Rekonstruktion betrachten, als Placebo. Die gibt es auch in Leipzig. Stadtpolitik ist manchmal auch ein Ringen um das vage Gefühl des Daheimseins. Des Wiedererkennens. Sogar in einer von Bankenhochhäusern dominierten Stadt. Aber warum nur?

Man kann es in den Museen besichtigen. Sie sind wie Schiffe, die die eindrucksvollen Reste der Vergangenheit bewahren. Ohne die Erzählung der Anfänge, die ja in Frankfurt mit a roman settlement beginnen im fernen Jahr 83, kann man eine Stadt nicht verorten und auch ein Land und eine Gesellschaft nicht. Der Mensch braucht Geschichte. Und Frankfurt bietet eine Menge Geschichte auf engstem Raum. Immerhin war es einst freie Reichsstadt und Ort der Reichstage und Kaiserkrönungen. Dass die deutsche Nationalversammlung hier 1848 tagte, war kein Zufall. Hier versuchten die Demokraten des 19. Jahrhunderts, die alte Reichsgeschichte mit einer republikanischen Zukunft zu verknüpfen.

Das ist zu besichtigen. In gewisser Weise wird es das langsam wieder erstehende DomRömer-Quartier illustrieren. Ein touristischer Hingucker wird es auf jeden Fall. Vielleicht werden deshalb künftig die Amerikaner und Engländer besonders zahlreich nach Deutschland gepilgert kommen, um zu sehen, wie die Deutschen ihre Geschichte rekonstruieren.

Was schreibt Zerback, jetzt hübsch ins Englische übersetzt? „When the ‚new‘ Old Town is finished, there will perhaps be an end to a long-standing dispute.“ Ein Disput, der seit den Aufbaujahren nach dem 2. Weltkrieg anhielt.

Wetten, dass er weitergeht? Gerade weil sich unsere Sicht auf die vergangene Geschichte stetig ändert. Was die Frankfurter in festen Baustoffen rekonstruieren, das passiert in unseren Köpfen und Geschichtsbüchern ständig. Und das Erstaunliche ist: Die späteren Autoren sehen mehr als die, die es erlebt haben, die sogenannten Augen- und Zeitzeugen. Denn wer mittendrin steckt in den Ereignissen, sieht das Meiste nicht. Es bleibt ihm verborgen oder: Er hält es nicht für wichtig.

Wer hielt den Aufstieg der Frankfurter Bankiersfamilie Rothschild anfangs für wichtig? Wer sah darin den Aufstieg einer neuen Zeit? Die Zeit der Bankentürme?

Heute gibt es ein Jewish Museum in Frankfurt, das auch diesen Aspekt der Jewish community since 1800 beleuchtet, untergebracht im Rothschild Palais. Und man fragt sich: Warum hat Leipzig kein solches Museum? Auch hier waren es jüdische Geldhäuser, die den Aufstieg der Boomtown im 19. Jahrhundert finanzierten. Ein paar Stolpersteine erinnern an die Mordserie der Nationalsozialisten an den Leipziger Juden. Ein Jewish Museum fehlt. Und auch in der Stadtgeschichte kommt der Aspekt selten zum Tragen. Es geht einem auch beim zweiten, englischen Spaziergang durch Frankfurt so: Man vergleicht es unausbleiblich mit der Stadt an der Pleiße, die über Jahrhunderte immer eine ganz ähnliche Entwicklung nahm. Aber irgendwie hat Leipzig die Hälfte seiner Geschichte vergessen, ausgeblendet. Sie kommt nicht vor in den üblichen Anekdoten.

Aber auch das wird einem zwischen Central Station und Jewish Museum wieder klar: Wer seine eigene Geschichte nicht kennt, versteht auch das eigene Gewordensein nicht. Vielleicht hatte Leipzig Pech, dass es keinen Ludwig Börne hatte (der dem Frankfurter Judenviertel Richtung Paris entfloh). Aber das wäre nur eine Ausrede. Selbst Leipzig könnte ein Museum der Emigranten locker füllen mit großen Namen. Es gibt es nicht.

Und man steht am Main-Ufer und hat einen Kloß im Hals: Warum nicht?

Warum ist dieses so musikversessene und großmäulige Leipzig so geschichtsvergessen? So feige vor der eigenen Vergangenheit?

Vielleicht lässt deshalb der nächste dicke Band zur Stadtgeschichte (Band 3: Vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg) so lange auf sich warten – weil die Autoren bei der Arbeit gemerkt haben, wie viele Löcher die Leipziger Geschichte tatsächlich hat. Gerade die jüngere, die man so gern feiert (Gründerstadt, Boomtown …). Man möchte fast drauf wetten, dass uns da noch Ãœberraschungen blühen.

Denn einen Satz glaubt man Zerback nicht wirklich: „No other town or city in Germany has been so greatly influenced by its Jewish history as Frankfurt.“ Das mag man beim ersten Lesen so hinnehmen, weil auch Anne Frank von hier kam. Aber dann denkt man an Leipzig und weiß, dass dort das jüdische Bürgertum genau dieselbe Rolle spielte. Aber dass man das in Leipzigs geschichtlicher Selbstdarstellung praktisch nicht sieht.

Und dabei hatte Bernd-Lutz Lange mit seinen Büchern zur jüdischen Geschichte so einen guten Grundstein gelegt. Aber es hat keiner drauf aufgebaut, wenn man von der fleißigen Erkundung jüdischer Schicksale im Holocaust absieht. Aber das ist nur das Ende. Als könne man die jüdische Geschichte immer nur von diesem Ende her erzählen. Und hätte gar keine Zeit, sie von ihrer Blütezeit her zu erzählen, ohne die das ganze kultur- und musikliebende Leipzig nicht denkbar ist.

An so etwas denkt man, wenn man da steht – in Gedanken zumindest: „Everyone knows the moving story of the Jewish girl Anne Frank, but not so many know that she was born in Frankfurt …“

„Geboren in Leipzig …“ – so könnte ein Buch heißen, das sich mit all dem beschäftigt, was Leipzig verloren hat, als die Menschenfeinde an die Macht kamen. Eine Gefahr, die auch heute wieder besteht. Weil Menschen vergesslich sind und ihnen niemand erzählt, wie reich wir einmal waren.

Aber schon dafür lohnt sich der Ausflug nach Frankfurt.

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