Orwells Welt ist überall. Auch wenn so mancher glaubt, 1984 sei Vergangenheit. Und es sei sowieso nur ein bestimmtes System gemeint gewesen. Aber Orwell war viel zu scharfsinnig, um hinter der Maskerade nicht etwas zu sehen, was alle modernen Gesellschaften als Gefahr in sich bergen. Ein Beispiel, dass mittlerweile in immer mehr Gesellschaftsbereiche hineinsickert, ist das "Neusprech". Man versteckt die Wirklichkeit hinter Phrasen, die das Gegenteil suggerieren.

Äußerst beliebt in der Werbung. Da wird nicht nur Pferdefleisch als Rindfleisch getarnt, eine Kalorienbombe hinter dem Wörtchen “light” versteckt oder eine Himbeere versprochen, wo nur Chemie drin steckt. Beliebt ist Neusprech auch im Managerjargon, der katastrophale Fusionen, Übernahmen oder Bilanzen hinter Worthülsen verbirgt, die scheinbar Erfolg und tolle Leistung beschreiben. Die üblichen Wirtschaftskolumnen sind voll mit diesem Jargon, der mittlerweile auch ins Politiker-Sprech hineingewuchert ist. Und nun scheint es auch an Orten angekommen, wo man es nicht vermutet hätte: am Ort der Bücher, in der Deutschen Nationalbibliothek am Deutschen Platz, die im Vergangenen Jahr erst ihr 100-jähriges feierte. Und kaum hat das Jahr begonnen, gibt es die erste Hiobsbotschaft für die Nutzer.

Seit Kurzem kündigt die Homepage der DNB an: “Die Öffnungszeiten der Deutschen Nationalbibliothek an ihren beiden Standorten in Leipzig und Frankfurt am Main werden ab März 2013 harmonisiert. Die Abendöffnungszeit am Frankfurter Standort wird wochentags bis 22 Uhr, samstags bis 18 Uhr ausgeweitet. Dem häufig geäußerten Wunsch nach längeren Öffnungszeiten des Lesesaals wird damit nachgekommen. Die Leipziger Lesesäle öffnen ab März erst um 10 Uhr.”

Harmonisierung?

Das lässt auch den PromovierendenRat der Uni Leipzig stutzen. In Sachen Bibliotheksöffnungszeiten ist der sowieso schon sensibilisiert, seit die Unibibliothek Leipzig im vergangen Jahr die Öffnungszeiten im Campus Augustusplatz einschränken wollte – aus Kostengründen. Die von der Staatsregierung vorgegeben Sparzwänge haben Folgen. Die Universität mit ihrem nun verknappten Budget kann viele steigende Nebenkosten nicht mehr auffangen und sucht logischerweise nach Einsparmöglichkeiten. Nur geht das mittlerweile an die Substanz, egal, wo der Rotstift ansetzt. Denn die 24-Stunden-Öffnungszeiten sind ja auch ein Resultat anderer Sparmaßnahmen – in diesem Fall beim Lehrpersonal. Viele Studierende bekommen Vorlesungen und Selbststudium nur noch unter einen Hut, wenn sie spätabends in der Uni-Bibliothek arbeiten können. Es wird schichtweise studiert. Jede Öffnungsstunde ist kostbar.
Und dass jetzt die Nationalbibliothek – mit der Begründung, in Frankfurt würde dafür abends länger geöffnet – in Leipzig morgens später die Türen aufmacht, sieht der PromovierendenRat logischerweise als weiteren Versuch, das Studieren und Arbeitenschreiben in Leipzig zu erschweren. Als irgendeine Harmonisierung sehen sie das Ganze beim besten Willen nicht.

“Aufmerksamen Nutzern der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) ist schon aufgefallen, dass die Bibliothek ihren Service am Leipziger Standort einschränken will. Im Zuge einer ‘Harmonisierung’ der Öffnungszeiten der beiden Standorte will die DNB statt wie bisher ab 8 Uhr künftig erst ab 10 Uhr öffnen – bei gleichbleibendem Preis für die Tageskarte, versteht sich”, kommentiert der PromovierendenRat diese neuerliche Leistungseinschränkung. Er will die Einschränkung des Angebots aber nicht hinnehmen und forderte am Mittwoch, 13. Februar, gemeinsam mit dem StudentInnenRat die Leitung der DNB in einem offenem Brief auf, die bisherigen Öffnungszeiten beizubehalten.
“Damit setzt sich der ProRat einmal mehr dezidiert für die Interessen der Leipziger Promovierenden ein, nachdem im Vorjahr bereits mithilfe einer Petition die Einschränkung des Angebots der Universitätsbibliothek zumindest vorläufig und teilweise verhindert werden konnte”, betonen Anne-Kathrin Gitter und Georg Herold, die Sprecher des PromovierendenRates der Uni Leipzig.
In ihrem Offenen Brief werden sie deutlich, was sie von einem Wort wie “Harmonisierung” in diesem Zusammenhang halten: “Mit Informationen, warum das so ist, wird gespart – nicht einmal eine Pressemitteilung ist auffindbar. Stattdessen ist von einer ‘Harmonisierung’ (!) der Öffnungszeiten die Rede, weil die Zeiten nun mit denen in Frankfurt übereinstimmen – was für die Leipziger Nutzer_innen völlig unbedeutend ist. All jenen, die nur morgens forschen können und nachmittags anderen Verpflichtungen nachgehen müssen (Lehre, Nebenjob, Familie, …) werden in Zukunft also zwei sehr produktive Stunden fehlen. Auch die Tageskarte ist somit mehrere Stunden weniger gültig.”

Und sie benennen noch ein anderes Thema, das die über den Dingen schwebende Direktion der Nationalbibliothek wohl völlig aus den Augen verloren hat, denn dass die Studierenden und Promovierenden die frühen Morgenstunden zur Nutzung der Bibliothek nutzen müssen, hat ja Gründe – zeitliche und finanzielle. Im Brief heißt es dazu: “Wir bitten Sie hiermit eindringlich, die Prekarisierung des wissenschaftlichen Mittelbaus am Standort Leipzig nicht weiter zu verschärfen und die Kürzung der morgendlichen Öffnungszeiten für Leipzig rückgängig zu machen!”

Der ProRat der Universität Leipzig ist ein Selbstvertretungsorgan, das sich für die Belange aller Promovierenden der Universität einsetzt. Die Aufgaben des ProRats umfassen insbesondere die Vertretung hochschulpolitischer Interessen der DoktorandInnen sowie die Beratung und individuelle Unterstützung in allen Phasen der Promotion. Nach den Neuwahlen im Oktober 2012 setzt sich der ProRat derzeit aus nein gewählten Vertretern zusammen.

Der PromovierendenRat der Uni Leipzig:
www.prorat.uni-leipzig.de
Der Offene Brief als PDF zum download.

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