Cornelius Weiss, studierter Chemiker und im nicht immer einfachen Zeitraum von 1991 bis 1997 Rektor der Universität Leipzig sowie von 1999 bis 2009 Abgeordneter der SPD und zuletzt Alterspräsident des Sächsischen Landtages, ist heute Mitglied des Hochschulrates der HTWK Leipzig. In dieser Funktion bekam er vor etwa drei Wochen Kenntnis über die Absetzung des Seminars "Partei ergreifen". Auf L-IZ-Nachfrage war Weiss nun bereit, seine Sicht auf die Dinge in einem Interview zu äußern. Schnell kam die Sprach dabei auf einen für Cornelius Weiss zentralen Begriff. Den Sinn hinter der grundgesetzlich verbürgten Freiheit von Forschung und Lehre.

Wie beurteilen Sie den Vorgang der Absetzung des Seminars von Mike Nagler als Mitglied des Hochschulrates der HTWK?

Der ganze Vorgang mutet doch recht bedenklich an und wirft einige grundsätzliche Fragen zum Rechtsstatus von akademischer Lehre und Forschung auf.

Artikel 5, Abs. 3, Satz 1 des Grundgesetzes lautet: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Dieser Satz ist – nach Artikel 1, Abs. 1 GG (Die Würde des Menschen ist unantastbar) – einer der wichtigsten Stützpfeiler der Demokratie. Denn die historische Erfahrung – von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit – lehrt uns nachdrücklich, dass Wissenschaft ohne Freiheit zu Siechtum und Unfruchtbarkeit verurteilt ist und irgendwann als beflissene Legitimationsbeschafferin für die Mächtigen endet.

Ohne Freiheit bei der Wahl des Gegenstandes und der Methoden sowie bei der Interpretation der Ergebnisse bleibt Forschung auf eingefahrenen Wegen und erschöpft sich bestenfalls in Präzisierungen des schon grundsätzlich Bekannten. Die wirklich bahnbrechenden Erkenntnisfortschritte der Menschheit waren dagegen fast immer das Ergebnis des freien Querdenkens und des kritischen Hinterfragens scheinbar unumstößlicher Wahrheiten und Dogmen.

Und sie konnten sich meist erst in langen, quälenden und oft genug auch für den einzelnen Forscher riskanten Auseinandersetzungen gegen die herrschende Lehrmeinung durchsetzen.
Welche Folgen sehen Sie für die Studenten und den Lehrbetrieb, sollten diese Grundsätze aufgeweicht werden?

Genauso essentiell für die demokratische Gesellschaft ist die Freiheit der akademischen Lehre. Denn ohne Meinungsvielfalt und freien Diskurs, ohne das freie Wort auch in den Lehrveranstaltungen werden die Hohen Schulen des Landes unausweichlich zu windschlüpfrigen Berufsbildungsanstalten.

Deren Absolventen können dann zwar immer noch über ein gediegenes Fach- und Faktenwissen verfügen, ihre für das Gedeihen und für die Weiterentwicklung der Gesellschaft notwendigen Fähigkeiten zum selbständigen kritischen Denken, zur Partizipation und – falls notwendig – zum couragierten Widerspruch aber bleiben unterentwickelt.

Doch die demokratische Gesellschaft bedarf keiner politisch indifferenten Untertanen, sondern der aktiven Mitwirkung mündiger Bürger. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben also aus gutem Grund der Freiheit der Wissenschaft Verfassungsrang eingeräumt.
Also eine Aufforderung zum ständigen akademischen Widerstreit?

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Natürlich können die Ergebnisse freier Forschung und Lehre gelegentlich auch lästig erscheinen, z. B. weil sie liebgewordene Glaubenssätze in Frage stellen oder irgendwelchen Partialinteressen widersprechen. Gerade deshalb muss die Freiheit der Wissenschaft als hohes Gut der demokratischen Gesellschaft immer wieder verteidigt werden – gegen bewusste Versuche der schleichenden Aushöhlung ebenso wie gegen Einschränkungen durch tagespolitische Zwecküberlegungen, durch falsche Rücksichtnahme auf Gruppeninteressen oder auch durch pure Fahrlässigkeit.

Insofern sollte jeder engagierte Bürger bei der Absetzung von akademischen Lehrveranstaltungen genau hinschauen.

Welche Gründe sehen Sie eventuell noch, außer der derzeit vorgebrachten Begründung der “politischen Neutralität der Hochschule”?

Die politische Neutralität der Hochschule wird an der HTWK offenbar sehr eng verstanden, denn sie war nach meiner Überzeugung durch das Blockseminar von Herrn Nagler zu keiner Zeit und in keiner Weise gefährdet. Andere Begründungen für den zumindest merkwürdigen Umgang mit Herrn Nagler sind mir nicht bekannt.

Ist Ihnen der Beschluss zum Ausschluss Mike Naglers aus dem Lehrbetrieb an der HTWK vom Jahre 2012 bekannt oder was wissen Sie darüber?

Ich habe von einem solchen Beschluss gehört, kenne aber weder seinen konkreten Inhalt noch gar den Wortlaut.

Ist es richtig, dass Sie angekündigt haben, von Ihrer Position als Mitglied des Hochschulrates zurückzutreten, sollte die Entscheidung Bestand haben?

Ja, das ist richtig. Mich haben allerdings Signale aus der HTWK erreicht, dass in der Hochschulleitung inzwischen ein gewisser Nachdenkprozess eingesetzt hat, der diesen Schritt vielleicht, ja hoffentlich überflüssig macht.

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