"Während Ulbricht Leipzig als seiner Geburtsstadt eine wichtige Bedeutung beimaß, hatte Honecker kein sonderliches Interesse an der Messestadt", sagt der der Leipziger Historiker Christian Rau. Er ist der Frage nachgegangen, wie trotz des forcierten Wohnungsneubaus nach 1971 die Wohnraumversorgung zur Achillesferse der SED-Herrschaft wurde.

Herr Rau, Sie sprechen von einer Zäsur 1971. Wie schlug sich die Neuausrichtung der SED-Politik nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht auf Erich Honecker in der Leipziger Wohnungspolitik nieder?

Im Bauwesen ergaben sich die meisten Veränderungen. Der Wohnungsneubau wurde gänzlich in dem vom Bezirk geleiteten Wohnungsbaukombinat zentralisiert, das für Grünau und Paunsdorf zuständig war. Die Stadt selbst war nur noch für Baureparaturen, Modernisierung und Lückenbebauung verantwortlich.

Im Bereich der Wohnraumlenkung änderte sich kaum etwas, außer dass man die Aufgaben der Wohnungsämter erhöhte und sie stärker als zuvor durch Parteikontrollkommissionen und Arbeiter-und-Bauern-Inspektion kontrollieren ließ. Die materielle und finanzielle Ausstattung, die personellen Probleme und die Arbeitsweise blieben gleich. Auch durften die Stadtbezirke, wie in den 1960er Jahren, weiterhin kaum Neubauwohnungen vergeben.

Wie hoch würden Sie den Zuwachs an Legitimität der SED-Herrschaft bei denen einschätzen, die eine der begehrten Neubauwohnungen erhielten?

Auch diese Frage lässt sich nur schwer beantworten, da wir kaum verwertbare Daten freier Meinungsäußerung besitzen. Umso erfreulicher ist es, dass die Leipziger Soziologin Alice Kahl in den 1970er Jahren eine Langzeituntersuchung zur Wohnzufriedenheit in Grünau angestrengt hat, deren Ergebnisse zum Teil gedruckt vorliegen.

Im Stadtarchiv bin ich vor kurzem zufällig auf die Original-Daten für das Jahr 1987 gestoßen, die, liest man zwischen den Zeilen, einigen Aufschluss über die Zustimmung der etwa 330 Befragten zum SED-Staat geben. Sicherlich kann man diesen Daten keine Repräsentativität zumessen, schließlich wohnten in Grünau Ende der 1980er Jahre zwischen 80.000 und 85.000 Menschen.
Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesen Ergebnissen ableiten?

Die Masse der Befragten gab an, dass Grünau ihren Bedürfnissen nach Wohnkomfort weitestgehend entsprach. Hinsichtlich der Zustimmung zur Politik der SED sind indes zwei Ergebnisse interessant. Auf die Frage hin, ob man gesellschaftspolitische Arbeit im Wohngebiet leiste, antworteten über die Hälfte mit nein. Weitere 20 Prozent hatten sich in der Hausgemeinschaftsleitung engagiert, was aber vor allem Reparatur- und Pflegearbeiten betraf.

Die Frage, wie das Verhältnis zur Hausgemeinschaftsleitung als politische Institution an der Basis sei, antworteten ebenfalls knapp 25 Prozent, dass sie sie allenfalls bei Reparaturarbeiten kontaktierten, etwa 30 Prozent hatten überhaupt keinen Kontakt zu ihr. Diskussionen über aktuelle politische und wirtschaftliche Fragen sollten nach Auffassung der Befragten allerdings kein Arbeitsfeld der Hausgemeinschaftsleitung sein.

Es lässt sich also vorsichtig resümieren, dass die Bewohner in Neubaugebieten – bei ihnen handelte sich vor allem um besser qualifizierte Facharbeiter und Angestellte – dem System nicht unbedingt zujubelten, aber aufgrund ihrer Lebensumstände, die ihren Bedürfnissen weitgehend entsprachen, kaum einen Grund hatten, zu rebellieren.

Und wie sah es diesbezüglich bei den Wohnungssuchenden und den Bewohnern der zusehends verfallenden Altbauquartiere aus?
In Altbaugebieten waren natürlich ganz andere Probleme an der Tagesordnung. Viele appellierten mittels Eingaben an höchste Stellen, arrangierten sich mit den Verhältnissen durch Eigeninitiative, erwiesen Improvisationstalent oder nutzten die Strukturdefizite und zogen “illegal” um.

Als sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre allerdings ein Aufbruch im Ostblock bemerkbar machte und die Unbeweglichkeit der SED-Führung immer heftiger auf Kritik stieß, waren es vor allem Bewohner aus Altbaugebieten, die MfS-Berichten zufolge Veranstaltungen im Vorfeld der Kommunalwahlen 1989 zum Abbruch brachten und offen mit Wahlverweigerung drohten. Bewohner in Neubaugebieten waren also tendenziell eher bereit, die SED zu akzeptieren, wobei die empirische Datenbasis für weitergehende Aussagen zu dürftig ist.

Die unlängst erstmals ausgestrahlte Verfilmung des Roman-Erfolgs “Der Turm” erzählt vom Fortbestehen bürgerlicher Rückzugsräume in der vorgeblich sozialistischen Großstadt Dresden. Gab es Vergleichbares auch in Leipzig?

Da ich mich schwerpunktmäßig mit der Herrschaftsdurchsetzung in der beziehungsweise durch die Stadtverwaltung beschäftigte und die Frage nach bürgerlichen Rückzugsorten nicht Gegenstand meiner Untersuchungen ist, kann ich hierzu nur vage Antworten geben.

In den frühen Quellen der 1950er Jahre finden sich Hinweise, dass sich vor allem in Stötteritz und Gohlis solche bürgerlichen Nischen gebildet haben, die versucht haben, sich dem Zugriff der SED auf die Wohnviertel zu entziehen und auch Wahlversammlungen der SED fernblieben.

Spätere Quellen werden indes problematischer, da in der sozialistischen Terminologie das Bürgertum praktisch nicht mehr existierte. Es gab ihr zufolge allenfalls noch “kleinbürgerliche Lebensstile” – ein moralischer Vorwurf, der allerdings auch Arbeitern angelastet werden konnte. Diese Quellen enthalten somit nur sehr vage Hinweise, denen es sich jedoch einmal im Rahmen einer eigenständigen Arbeit nachzugehen lohnt.

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Dem Verfall von Bausubstanz in vielen Städten der DDR stand der aufwändige Ausbau der Hauptstadt Berlin gegenüber. Nicht von ungefähr war die Rückholung der Leipziger Bauarbeiter von den Berliner Baustellen eine der Forderungen im Herbst 1989. Inwieweit bekamen die Leipziger Amtsträger diese Anti-Berlin-Stimmung zu spüren?

Die gefühlte Konkurrenzsituation zu Berlin spielte für die Verantwortlichen des Bauwesens immer eine zentrale Rolle. In den 1960er Jahren, als das Stadtzentrum sein sozialistisches Antlitz erhielt, wirkte sich dies in zweierlei Hinsicht auf die Mentalität und Handlungsweise der Verantwortlichen des städtischen Bauwesens aus.

Einerseits war man stolz, dass man in vielen Dingen direkt mit dem ZK über Baukapazitäten verhandeln und damit den Rat des Bezirkes als Zwischeninstanz umgehen konnte oder beziehungsweise mit Paul Fröhlich, dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, einen einflussreichen Fürsprecher im Politbüro besaß. Andererseits kritisierten die Verantwortlichen für den Wohnungsbau, dass Berlin mit Kapazitäten bevorteilt würde.

Hierbei scheiterten auch etliche Versuche, über Paul Fröhlich zusätzliche Kapazitäten herauszuschlagen. In den 1970er Jahren kehrte sich das Verhältnis zwischen Stadt und Parteizentrale um. Während Ulbricht Leipzig als seiner Geburtsstadt eine wichtige Bedeutung beimaß, hatte Honecker kein sonderliches Interesse an der Messestadt. Auch zum Nachfolger Fröhlichs, Horst Schumann, bestand kein sonderlich gutes Verhältnis.

Zum Schluss eine Frage über Ihr Forschungsthema hinaus: Wann wird nach Ihrer Einschätzung eine Geschichte der Transformation der Leipziger Wohnungswirtschaft nach 1990 geschrieben werden?

Das lässt sich ziemlich genau beantworten. Das Sächsische Archivgesetz schreibt vor, dass alle Akten, die nicht mehr in den Bestand DDR fallen, erst nach 30 Jahren eingesehen werden dürfen. Insofern lässt sich schon heute eine Geschichte des Transformationsprozesses von der Friedlichen Revolution bis zur Auflösung der DDR schreiben, selbstverständlich unter Wahrung des Persönlichkeitsrechtes noch lebender Akteure. Über alles, was darüber hinausgeht, ließe sich erst in acht Jahren forschen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Terminhinweis: Veranstaltung am Donnerstag, 1. November, 19:30 Uhr mit Christian Rau M.A. in der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, Otto-Schill-Straße 4: “Zwischen Durchsetzung und Erosion der SED-Herrschaft. Die Leipziger Stadtverwaltung zwischen Mauerbau und Mauerfall am Beispiel der städtischen Wohnungspolitik”.

Eine Veranstaltung der Reihe “Vorträge zur Leipziger Stadtgeschichte”. Die Veranstaltungsreihe ist ein Gemeinschaftsprojekt der Stadt, der Sparkasse und der Universität Leipzig in Vorbereitung des Stadtjubiläums 2015.

Zur Person: Christian Rau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Leipzig. Seine Hauptarbeitsschwerpunkte sind Adel und Bürgertum, Nation und Nationalismus sowie Verwaltungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. In seinem Dissertationsprojekt beschäftigt er sich mit dem Rat der Stadt Leipzig 1957-1989 und analysiert Struktur, Personalentwicklung und Herrschaftsalltag. Rau wurde 1984 in Gera geboren.

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