Die Franckeschen Stiftungen im nahen Halle begehen in diesen Wochen den 350. Geburtstag ihres Gründers. Der Theologe, Sozialreformer und Bildungspionier August Hermann Francke (1663 - 1727) musste Leipzig 1689 verlassen. Der Religionswissenschaftler Helmut Obst beschreibt in seinem Buch Franckes Leben und die Geschichte der Stiftung.

“Es ist ein Glücksfall, dass sich in Sachsen-Anhalt sowohl die Ursprungsstätten der Reformation als auch die historischen Stätten ihrer Vollendung und weltweiten Verbreitung finden lassen”, schreibt der Hallenser Religionswissenschaftler Helmut Obst, Jahrgang 1940.

Dieses Glück wird dadurch abgerundet, dass unweit der Lutherstädte Wittenberg und Eisleben die Universitätsstadt Halle an der Saale liegt. Hier ging ein gewisser August Hermann Francke (1663 – 1727) mit tiefer Überzeugung an sein reformatorisches und reformerisches Wirken. Und er hinterließ damit nachhaltige Spuren: an ganz verschiedenen Orten der Welt.

Zuvörderst natürlich in Halle selbst. Denn die Franckeschen Stiftungen, gegründet 1695, bilden auch heute noch einen wichtigen Ort von Bildung, Forschung, Kultur und Religion im Herzen der Saalestadt. Mit einer Armenschule fing alles an. Kurz darauf kam das Waisenhaus hinzu. Dann weitere Schulen, die Druckerei und die Apotheke.

Seine religiöse, wie sozial- und bildungsreformerische Bestimmung fand der am 22. März 1663 in Lübeck geborene Francke nicht auf geradem Wege. Von einer atheistischen Anfechtung sei der junge Magister der Theologie und alten Sprachen 1687 heimgesucht worden, erinnert Helmut Obst in seinem aktuellen Buch “August Hermann Francke und sein Werk”. Der Band versteht sich als Festgabe anlässlich des Jubiläumsprogramms zum 350. Geburtstag August Hermann Franckes “Vision und Gewissheit. Franckes Ideen 2013”.

Auf die Anfechtung folgte die Bekehrung samt Bestärkung seines Glaubens. Dies aber in einer Art und Weise, wie sie es der lutherischen geistlichen Obrigkeit in Leipzig nicht gefiel. Franckes tätige Frömmigkeit, die “praxis pietatis”, war ihnen beinahe Ketzerei. Es kam zur Anklage.

Für den ehemaligen Studenten der Landesuniversität Leipzig war in Kursachsen nicht länger Platz. Francke verließ 1689 Leipzig. In Erfurt wurde er im Jahr darauf aus den gleichen Gründen als Pfarrer und Universitätslehrer entlassen.

Seine Heimat fand August Hermann Francke dann ab 1691 in Halle: als Pfarrer in Glaucha, das damals noch vor den Toren der Saalestadt lag, und als Professor für Griechisch und orientalische Sprachen an der 1694 gegründeten Hallenser Universität.Pietismus passt Preußenherrschern ins Konzept

Die Glaubensdinge lagen in Halle als Teil des Herzogtums Magdeburg fürs Erste nicht anders als in Kursachsen. Der Ton angebenden lutherischen Orthodoxie waren die pietistischen Umtriebe auch hier suspekt.

Doch in Halle genoss Francke den Schutz und die Förderung des Landesherrn. Das Herzogtum Magdeburg mit Halle gehörte zum Herrschaftsgebiet der Hohenzollern. Die waren Kurfürsten von Brandenburg und ab 1701 Könige in Preußen.

Kurfürst Friedrich III. (1657 – 1713), der als König dann Friedrich I. hieß, und sein Sohn, “Soldatenkönig” Friedrich Wilhelm I. (1688 – 1740) wussten um die Gefährdungen ihres jungen Staatswesens. Dazu zählte die konfessionelle Kluft zwischen den verschiedenen Landesteilen, die mal lutherisch und mal reformiert waren. Hinzu kamen die Reserven von Ständen, Geistlichkeit und Bevölkerung in den lutherischen Gebieten gegen das reformierte Herrscherhaus selbst. Um beides zu überwinden, brauchte es etwas vermittelndes Drittes oder integrierendes Neues. Eben Franckes Pietismus. So hat es der australische Historiker Christopher Clark in “Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947” (englisches Original 2006, deutsch 2007) überzeugend dargelegt.

Zudem waren pietistische Gottesfurcht, tätiger Glaube, Arbeitsamkeit und Sparsamkeit offenbar ganz nach dem Geschmack von König Friedrich Wilhelm. Darüber hinaus wurden in dem Hallenser Bildungskosmos aus Stiftung und Universität über Jahrzehnte jene Beamten herangebildet, die den Aufbau und die Vereinheitlichung des preußischen Verwaltungsstaates bewirkten.

Von der engen Verbindung der Stiftung mit den preußischen Landesherrn schreibt Obst mehrfach. Der emeritierte Hallenser Professor schlägt in seinem Buch den Bogen von der Biographie Franckes, dem Aufbau der Stiftungseinrichtungen, deren nachhaltigen theologischen Wirkungen und dem heutigen Selbstverständnis der Stiftung.

Wie die Stiftung ihren Gründer heute begreift und wie sie künftig wirken will, kann am Geburtstagswochenende vom 22. bis 24. März 2013 besichtigt werden. Auch Bundespräsident Joachim Gauck hat sich als Gast und Festredner angekündigt.

Weltveränderung durch Menschenveränderung

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“Weltveränderung durch Menschenveränderung” sei der Antrieb Franckes gewesen, schreibt Obst. Das hat Francke mit vielen Bildungsreformern gemein. Bei Francke kam die Anerkenntnis hinzu, dass die Behebung der gröbsten materiellen Not die Voraussetzung für Bildungserfolge ist. Deshalb das Waisenhaus und andere Sozialwerke.

Dass die Menschen durch Beseitigung von Not und Bildung zum Wort Gottes finden sollten, lag bei Francke auf der Hand und im Zug der Zeit. Dieses Angebot war ein inklusives: also an alle Schichten gerichtet, und mit universellem Anspruch.

So erklären sich auch die Missionsaktivitäten, die von Halle ausgingen. Francke-Schüler wirkten beispielsweise in Russland. Sie gelten als die Begründer der Lutherischen Kirchen in der USA und Indien. Kirchengeschichtlich bedeutsam ist dabei, wie Obst hervorhebt, dass diese Kirchen organisatorisch ohne die Einsetzung des fürstlichen Landesherrn als Kirchenoberhaupt auskamen.

Missionen, außereuropäische zumal, müssen sich manch kritischen Einwänden stellen. Deshalb hier der Hinweis, dass sich die Missionswerke, die sich in Franckescher Tradition sehen, heute mit ihren Partnerkirchen als auf Augenhöhe befindlich verstehen. Seit mehreren Jahren läuft das Austauschprojekt “Mission to the North”.

Bandbreite und Zusammenwirken als PotenzialeAls Konrektor und Rektor prägte Obst die Entwicklung der Stiftung nach der Wiederherstellung ihrer Selbstständigkeit zwischen 1992 und 2003 entscheidend mit. Seit 2003 ist Obst Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung.

Wiederherstellung. Eben dieses Wort verweist auf die speziellen Zeitläufe, denen sich die Stiftung als Bildungsinstitution ausgesetzt sah. Bildungsreformer wie Francke legten den Grundstein für die allgemeine Schulpflicht, die nicht nur auf dem Papier stand. Je mehr diese durch den modernen Verwaltungsstaat durchgesetzt wurde, desto direkter wollte auch der Staat in das Bildungswesen selbst eingreifen.

Das Konfliktfeld moderner, säkularer Staat versus Bildungseinrichtungen in freier, konfessioneller Trägerschaft ist ein weites. Subsidiarität, Vielfalt und Verschiedenheit sind für manchen Debattenteilnehmer dabei mitunter Fremdworte.

In diesem Teil Nachkriegsdeutschlands blieb über Jahrzehnte für derartige Freiräume überhaupt kein Platz. Die Verwaltung der Provinz Sachsen, der Vorgängerin des Landes Sachsen-Anhalt, hob im September 1946 die Rechtspersönlichkeit der Stiftung auf. Die Institutionen der Stiftung wurden der staatlichen Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zugeordnet. Im September 1991 stellt das sachsen-anhaltinische Wissenschaftsministeriums die Unwirksamkeit besagter Verordnung und deren Rechtswidrigkeit von Anfang an fest.

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August Hermann Francke und sein Werk
Helmut Obst, Harrassowitz Verlag 2013, 15,80 Euro

“Das größte Potenzial der Franckesche Stiftungen besteht sicher in der Bandbreite der hier beheimateten Institutionen, fruchtbar wird es aber erst durch ein möglichst vielfältiges und facettenreiches Zusammenwirken von Kultur, Wissenschaft, Pädagogik und Sozialem im Geist des Stifters”, so Obst am Ende seines Buches.

Die Stiftungen wollen nun UNESCO-Welterbe werden. Zu den inhaltlichen Begründungen nennt mancher ein formales Argument. Durch die Streichung des Dresdner Elbtals aus der Liste wegen der Waldschlösschenbrücke sei ein Platz für Deutschland frei geworden. Das erinnert schon fast wieder an die Vertreibung Franckes und seiner Anhänger aus Kursachsen.

www.francke-halle.de

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